Ich will doch nur küssen
sagte Nash. »Du hast dich einfach aus dem Staub gemacht. Du bist aus unserem Leben verschwunden, ohne dich auch nur ein einziges Mal zu melden oder nach uns zu sehen. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was mit uns passieren würde.«
Ethan konnte nicht leugnen, dass Nash die Wahrheit sagte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und am liebsten hätte er erneut die Flucht ergriffen, aber er blieb, wo er war, klammerte sich verzweifelt an seinen letzten, winzigen Rest Stolz und murmelte: »Es tut mir leid.«
Doch das reichte ihnen bei Weitem nicht… Und er konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Er ballte die Hände zu Fäusten.
»Verrat mir nur eines«, sagte Nash. »Hast du dir je überlegt, was wir alles mitgemacht haben, nachdem du einfach abgehauen bist?«
Ethan gab keine Antwort. Das war auch nicht nötig, sie würden es ihm ohnehin erzählen. Es würde für sie keinen großen Unterschied machen, wenn er ihnen sagte, dass er sich unzählige Nächte um die Ohren geschlagen, sich immer wieder genau diese Frage gestellt hatte. Ethan wollte von ihnen etwas über die Vergangenheit erfahren.
»Man hat uns getrennt«, sagte Nash. »Niemand wollte uns beide nehmen.« Ethans Bruder verkrampfte die Hände ineinander und knetete sich die Finger, um seine Wut in Zaum zu halten.
Ethan konnte nicht einmal mehr schlucken.
»Ich wurde von den Rossmans adoptiert, einer begüterten Familie, die im Nobelviertel der Stadt gewohnt hat«, sagte Nash. »Sie hätten es sich leisten können, uns beide aufzunehmen, aber sie wollten nur einen von uns, um den Sohn zu ersetzen, der ein paar Jahre zuvor an einer Überdosis Drogen gestorben war. Ich war zufällig so alt, wie der Junge zum Zeitpunkt seines Todes gewesen war.«
Nash machte eine Pause, um Luft zu holen.
Dare starrte Ethan an, der kein Wort herausbrachte.
»Und Dare … «, fuhr Nash schließlich fort und deutete auf ihren jüngsten Bruder. »Er hat die übelste Pflegefamilie bekommen, die man sich nur vorstellen kann. Erinnerst du dich an die Garcias?« Er wartete ab, bis Ethan sein Gedächtnis durchforstet und eine Reaktion gezeigt hatte.
Es dauerte nicht lange. Ethan erinnerte sich nur zu gut an die Garcias, eine Familie, die immer schon Pflegekinder aufgenommen hatte, um Geld vom Staat dafür zu kassieren, obwohl sie gar nicht genügend Platz gehabt hatten. Er wusste noch, dass die betreffenden Kinder immer Kleider getragen hatten, die ihnen nicht recht passten, und dass sie immer allein gewesen waren, weil sich keiner mit ihnen abgeben wollte. Die anderen Kinder hatten sie eher gehänselt, als sich mit ihnen anzufreunden.
Ethan wurde übel. Er verschränkte die Arme vor der Brust, aber das half nicht gegen das Stechen, das er erneut in seiner Brust verspürte. »Ja, ich erinnere mich.«
Nashs Augen, die normalerweise mittelblau waren wie die ihrer Mutter, wurden ganz dunkel vor Zorn. »Er war gerade mal fünfzehn.« Nash legte Dare erneut eine Hand auf die Schulter. »Ich habe ihm oft heimlich etwas zu essen gebracht, und meine alten Kleider. Und wo zum Teufel hast du gesteckt?« Nash machte einen Schritt nach vorne und bohrte ihm einen Zeigefinger in die Brust.
»Ich war beim Militär.«
Nash wirkte kein bisschen überrascht.
Zweifellos hatten die beiden Nachforschungen über ihn angestellt. Er dagegen hatte es tunlichst unterlassen, sich über den Werdegang seiner Brüder zu informieren, aus Angst davor, was er herausfinden würde.
»Dass wir hier sind, hat nur etwas mit Tess zu tun«, meinte Nash.
»Genau. Wir werden sichergehen, dass sie alles hat, was sie braucht, aber erwarte bloß nicht, dass wir etwas für dich tun«, stellte Dare klar.
Nashs Worte hallten in Ethans Ohren wider. Wie in Trance vernahm er von draußen ein Piepsen und hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel, ohne die Geräusche bewusst wahrzunehmen.
»Haben wir uns klipp und klar ausgedrückt?«, fragte Nash.
»Absolut.« Ethans Finger umklammerten noch immer die Stuhllehne.
»Also, was können wir für Tess tun?«, fragte Dare.
Ethan konnte weder denken noch atmen, von sprechen ganz zu schweigen. Wieder verspürte er den Impuls, davonzulaufen, aber er rief sich in Erinnerung, dass er sich wie ein Erwachsener benehmen musste, für Tess. Seine Brüder schienen nur darauf zu warten, dass er wieder die Flucht ergriff, und allein deshalb gelang es ihm, zu bleiben und ihnen in die Augen zu blicken.
»Wir müssen Tess das Gefühl vermitteln, dass sie zu uns gehört, Teil einer
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