Ich will doch nur küssen
Kurzem hatte er nicht einmal von Tess’ Existenz gewusst. Wie kam es nur, dass sie ihm im Laufe von ein paar Wochen derart ans Herz gewachsen war?
Er wusste, dass sie verletzt war, und er konnte auch nachvollziehen, warum, aber er wusste, das war noch nicht alles. Es steckte mehr dahinter. Er wollte die Wut verstehen, die unter der Oberfläche brodelte. Er ging davon aus, dass alles damit zusammenhing, wie sie aufgewachsen war – wie ihre Mutter und später ihre Schwester sie behandelt hatten.
»Erzähl mir, wie dein Leben war, bevor du hierhergekommen bist«, bat er sie.
Schweigen.
Nun gut, wenn sie nicht reden wollte, dann würde er es eben tun. »Wir haben denselben Vater. Du kannst dich nicht an ihn erinnern, weil er gestorben ist, als du noch klein warst, aber ich kann mich an ihn erinnern. Er hieß Mark. Du hast seine Augen«, sagte er.
Sie blinzelte und schielte zu ihm hoch. Ihr Interesse war also geweckt. Sie beobachtete ihn durch die Wimpern hindurch, immer noch schweigend, aber immerhin, sie hörte zu.
»Seit du hier aufgetaucht bist, habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich in deinem Alter war. Ich war mit derselben Sorte Kindern unterwegs wie du, und wie du wurde ich einmal verhaftet.« Er setzte sich etwas bequemer hin.
Diesmal rückte sie zur Seite, um ihm Platz zu machen. »Als du gehört hast, was meine Brüder mir alles an den Kopf geworfen haben, ist dir wahrscheinlich aufgefallen, dass wir uns irgendwie ähnlich sind, stimmt’s?«
Da sie nicht antwortete, stupste er sie am Bein an, und sie nickte. Ihr Block rutschte weg, und sie zupfte an einem imaginären Faden ihrer schwarz-lila gemusterten Zebrabettwäsche.
»Als wir heute den Fernsehapparat gekauft und Wii gespielt haben, ist mir klar geworden, dass meine Mutter oder mein Vater nie mit uns losgezogen sind, um uns Spiele zu kaufen. Wir hatten zwar einige im Haus, aber die hatte uns alle mein Vater nach seinen zahlreichen langen Geschäftsreisen mitgebracht. Willst du wissen, warum?«
Tess starrte auf das Bett. Ihre Hand hielt jetzt still.
Zumindest drang er zu ihr durch, wenn er schon Federn lassen musste, dachte Ethan. »Mein Vater hatte ein schlechtes Gewissen, weil er bei deiner Mutter gewesen war, und er hat uns etwas mitgebracht, um es wiedergutzumachen. Und weißt du was? Mir war klar, dass er eine Affäre hatte. Ich habe gehört, wie sich meine Eltern deswegen gestritten haben, und da ich der Älteste war, dachte ich, ich müsste etwas unternehmen. Deshalb habe ich immer wieder Ärger gemacht, in der Hoffnung, dass mein Vater mir etwas mehr Aufmerksamkeit schenken und zu Hause bleiben würde.« Ethan legte eine Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen. »War es bei dir ähnlich? Läufst du vor irgendetwas davon?«
Er betrachtete Tess eingehend und wartete geduldig ab. Er hatte Zeit – wenn es sein musste, die ganze Nacht. Tess begann, an ihren Nägeln herumzukauen, und zwirbelte ein Stück Nagelhaut zwischen den Fingern. »Hey, du wirst dir noch wehtun. Nun komm, erzähl«, drängte Ethan.
Sie atmete tief durch. »Als ich klein war, ist meine Mom nachts immer weg gewesen. Sie hat behauptet, dass sie arbeiten muss. Kelly hat auf mich aufgepasst.« Tess zog die die Knie zur Brust.
Ethan ballte die Fäuste. »Und, war Kelly nett zu dir?«
»Sehr nett.« Tess nickte. Ihre Augen leuchteten auf, nun, da sie von ihrer Schwester sprach.
»Hast du eigentlich mal was von ihr gehört, seit du hier bist?« Seltsam, dass er sich das erst jetzt zum ersten Mal fragte.
»Sie ruft mich jeden Abend an.«
»Lass mich raten: Sie redet, du grunzt irgendetwas ins Telefon?«
Tess grinste widerstrebend. »Kelly ist zwölf Jahre älter als ich, und als sie nach der Highschool aufs College ging, hat sie Mom am Anfang noch geholfen, auf mich aufzupassen.«
Ethans Bewunderung für Kelly Moss wuchs.
»Aber dann ist Kelly zu einer Freundin gezogen, und Mom meinte, ich wäre jetzt alt genug, um nachts allein daheim zu sein. Sie hat immer gesagt, sie muss arbeiten … « Tess versagte die Stimme.
Ethan legte ihr beruhigend eine Hand aufs Bein. »Was hat sie denn tagsüber gemacht, während du in der Schule warst?«
Tess schniefte. »Ich dachte, sie hätte zwei Jobs.«
Ihre Wortwahl entging Ethan nicht. Ich dachte, sie hätte zwei Jobs . »Und was hat sie tatsächlich gemacht?«
»Männer«, sagte Tess mit unverhohlener Verachtung. »Einen nach dem anderen.«
Ethan krallte die Finger in die Bettdecke.
»Einmal hat es nachts ganz
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