Ich will doch nur normal sein!
wegmachen, doch Herr Dr. S. schüttete das Blut ins Waschbecken, reinigte dann das Becken und entsorgte die Tüte. Nachdem mein Arm verbunden war und alles sauber war, beruhigte ich mich auch langsam. Wobei nun mein vordergründiges Problem war, dass ich mich schämte, weil Herr. Dr. S. die ganze Sauerei beseitigt hat, die ich angerichtet habe. Das war mir wirklich peinlich, denn es war noch nie jemand dazugekommen, wenn ich mich geschnitten habe.
Ich weiß nicht mehr, was an dem Tag noch passiert ist – ich weiß nichts mehr. Ich weiß nur noch, mein Kopf war nicht mehr klar und ich hatte Druck. Die Schmerzen in den Armen waren wieder da und das Schlimmste, ich habe mich so sehr geschämt. Ich wollte mit niemand mehr reden, niemand mehr sehen.
Diese Texte habe ich dann in meiner Verzweiflung geschrieben:
Missbrauch – selber schuld!?
Du warst mein liebster Opa,
Ich war dein liebstes Mäuschen.
Du hast gelächelt, als du mir weh tatest,
in mich eindrangst.
Du hast gesagt, es ist schön und gefällt dir,
ich habe geweint, es war nicht schön, sondern tat weh.
Als es vorbei war, nahmst du mich in die Arme und
beruhigtest mich – das war schön.
Es ist schön und dir gefällt es auch bald besser,
sagtest du mir. Ich sagte nichts.
Es passierte immer wieder.
Dass es mir nicht gefällt, sagte ich nie.
Es gefiel mir auch nie.
Doch ich schwieg.
Opa hat mich lieb und ich wollte nicht ungezogen sein.
Ich habe meinen Opa auch lieb, weil er mich tröstet und nie schimpft.
Und Opa weiß ja gar nicht, dass es mir nicht gefällt.
Er ist doch mein lieber Opa gewesen
Und ich bin selbst schuld, ich habe doch nie gesagt, es ist nicht schön.
Heute, wo ich groß bin, denke ich, ich bin schuld daran, was passierte.
Ich habe es zugelassen und verheimlicht, geschwiegen, so getan, als würde es gar nicht passieren.
Ich möchte wütend sein auf meinen Opa – bin es nicht.
Ich habe ihn noch lieb und fühle mich schuldig
Und schäme mich, weil ich nicht wütend bin.
Normal ist man doch wütend? Oder????
30.10.2002 Tina
Meine kleine Prinzessin
Es ist schön, eine Prinzessin zu sein.
Ich war Vatis kleine Prinzessin.
Er sagte, er hat mich lieber als Mutti.
Ich wollte das nicht, ich habe Mutti doch lieb.
Gesagt habe ich nichts, ich habe mich geschämt deswegen.
Ich wusste es ist nicht richtig, dass er mich lieber als Mutti hat.
Als es dann passierte, war es, weil er mich zu lieb hatte.
Er sagte, er kann doch nichts dafür, wenn er mich zu lieb hat.
Gesagt habe ich nichts, ich habe mich geschämt.
Es passierte immer wieder, jeden Tag.
Er sagte, es darf keiner wissen, dass er mich so lieb hat.
Er sagte, Mutti würde traurig werden und sich umbringen, wir kämen ins Heim
und er ins Gefängnis. Und das alles nur, weil er mich zu lieb hat.
Er kann doch nichts dafür – sagte er.
Gesagt habe ich nichts, ich habe mich geschämt.
Ich schäme mich heute noch,
ich habe ihn doch auch lieb gehabt, doch das wollte ich nicht.
Jeder normale Mensch müsste doch wütend sein! Ich bin es nicht, ich schäme mich dafür.
Mein Bruder und seine vielen Freunde:
Er war mein großer Bruder.
Sagte nichts, brauchte nichts zu sagen.
Er tat es einfach eines Tages zum ersten Mal.
Was sollte ich sagen? Ich konnte nichts sagen,
habe nur gedacht: „Warum?“
Erst war es nur ein Freund meines Bruders,
dann viele und sie gaben meinem Bruder dafür ihr Taschengeld.
Ich schämte mich. Hatte Angst, die verraten jemandem,
was für eine ich bin.
Ich bestand nur noch aus Angst, schämen und dem,
was jeden Tag passierte.
Ich wollte das nicht, mit keinem von denen.
Es hat keiner gefragt. Sie haben nur das getan, was Vati und Opa schon so lange tun mit mir.
Ich habe geschwiegen und mich geschämt, weil ich so Eine bin.
Heute schäme ich mich, weil ich geschwiegen habe.
Ich müsste doch wütend sein, oder?
Ich müsste doch wütend sein, wie jeder normale Mensch.
Ich bin nicht wütend und ich schäme mich deshalb.
30.10.2002 Tina
Wird es jemals anders?
Es war doch damals – also lange her.
Ich möchte doch wenigstens jetzt leben.
Ich möchte doch wenigstens jetzt normal sein können.
Aber es geht nicht.
Tief in mir weint alles.
Warum?
Ich kann es nicht sagen.
Es ist wegen damals!
Ich denke nicht daran, will nicht daran denken – doch es geht mir schlecht.
Es ist da, ohne das ich daran denke.
Es geht mir schlecht – nimmt mir die Luft,
Lässt mich
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