Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
applaudiere mit den anderen.
Eins zu eins, denke ich im Stillen.
Nils sitzt an dem runden Tisch ganz hinten in der Ecke, so weit von den Computertischen entfernt wie nur möglich, wo es ziemlich unruhig ist, egal, wie oft die Bibliothekarin um Ruhe bittet. Vor ihm liegt ein auf der Asien-Seite aufgeschlagener Atlas. Ich lege meine Blätter und einen Stift auf den Tisch und zögere einen Moment, ehe ich mich auf den Stuhl ihm gegenüber setze.
»Wie weit bist du gekommen?«, frage ich.
Er lächelt. »Nicht sonderlich weit. Lukas und ich haben in der Stunde Angry Birds auf seinem Smartphone gespielt.«
»Wenn wir es jetzt machen, müssen wir uns wenigstens nicht am Wochenende damit rumschlagen.«
Nils nickt und fährt mit dem Stift über Südostasien. »Das hier dürfte Laos sein, oder?«
Ich nutze die Gelegenheit, mich neben ihn zu setzen. Wir beugen uns über die Karte, Schulter an Schulter, und ich sauge seinen warmen, leicht würzigen Duft ein. Die Buchstaben im Atlas wollen nicht recht Worte bilden und die Linien lassen sich nicht zuordnen. Laos und Kambodscha verschwimmen mit Thailand, das wiederum über Malaysias Grenze schwappt. Ich fülle meine Lunge unauffällig mit Luft und beiße mir auf die Unterlippe. Konzentration!
»Heißt das jetzt Burma oder Myanmar?«, fragt Nils. »Oder sind das zwei unterschiedliche Länder?«
»Weiß nicht«, antworte ich. »Ich hab beides geschrieben. Ich glaube, das sind zwei Namen für ein und dasselbe Land.«
Papa ist viel in Südostasien rumgereist, bevor er Mama kennengelernt hat. Ich habe massenweise Fotos gesehen und endlose Geschichten über die Gegend gehört, darum kommt mir das alles gar nicht so fremd vor, obwohl ich nie selber dort war.
»Das hier ist auf alle Fälle Indonesien«, sage ich und fahre mit dem Finger um die große Inselgruppe.
»Sumatra?«, liest Nils skeptisch.
»Sumatra ist eine Insel in Indonesien. Die größte, glaube ich.«
Er hebt den Blick und sieht mich an. So nah. Seine Augen sind dunkelbraun und schwer zu deuten. Aber es arbeitet ständig in ihnen. Gedanken und Stimmungen bewegen sich darin, ohne sich richtig zu erkennen zu geben.
»Was du alles weißt«, sagt er.
»Mein Vater ist viel gereist«, antworte ich so lässig wie möglich.
»Cool. Ich würde auch gerne reisen. Aber wir fahren ja immer nur nach Griechenland.«
»Das ist doch wohl auch cool, Familie in Griechenland zu haben und dort … zu Hause zu sein. Sprichst du eigentlich Griechisch?«
Er zieht die Schultern hoch. »Nicht sonderlich gut. Meine Oma beschwert sich immer darüber.«
Ein schnelles Lächeln zuckt über seine Lippen. Wie er wohl reagieren würde, wenn ich mich jetzt zur Seite lehne und ihn küsse?
Als hätte er meine Gedanken gelesen, rückt er ein Stück von mir weg und beugt sich wieder über die Karten. Ich nehme meinen Stift.
»Wo waren wir stehen geblieben? Indonesien, oder?«
»Ja, genau.«
Wir tragen alle Ländernamen für Asien und Amerika ein. Honduras, El Salvador, Uruguay. Meine Gedanken rotieren, während ich schreibe. Wieso ist es so natürlich zwischen Tonja und Lukas? So einfach? Habe ich mich vielleicht geirrt? Ist Nils überhaupt nicht an mir interessiert? Sonst würde er doch wohl die Gelegenheit nutzen, jetzt, wo wir endlich mal alleine sind? Wie nutzen? Ich weiß es nicht so genau. Irgendwie halt. Einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung tun. Oder muss ich alles selber machen? Der Vorschlag, mich bei einem nächsten Date für den Orangensaft zu revanchieren, kam von mir. Und ich habe vorgeschlagen, Erdkunde zusammen zu machen. Gerade war ich es, die sich neben ihn gesetzt hat. Was soll mir das sagen? Dass nur ich was von ihm will? Dass ich besser aufwachen sollte? Reality check.
Ich falte meine Karten zusammen und sehe ihn an. Wahrscheinlich bin ich eine verblendete Idiotin. Er ist gar nicht an mir interessiert. Wir sitzen nur hier, weil wir übrig geblieben sind. Eigentlich geht es nur um Tonja und Lukas. Hätte Tonja eine andere Freundin, würde Nils mit ihr hier sitzen. Es wird Zeit, das einzusehen.
Plötzlich ist mir alles ganz schrecklich peinlich. Ich stehe auf.
»Okay, dann sind wir ja wohl fertig …«, sage ich.
Nils sieht mich überrascht an. Bestimmt war er mit den Gedanken schon ganz woanders.
»Klar«, sagt er. »Danke, dass du mir geholfen hast.«
»Ebenso«, nuschele ich und eile mit einem Kloß im Hals aus der Bibliothek.
Behämmerte Hirntote, Vollidiotin. Wie komm ich denn bloß darauf?
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