Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
glaube nicht. Wir wussten jedenfalls nichts davon. Keiner hat etwas geahnt.«
»Dann war er also sozusagen … programmiert, zu sterben?«
Ich sehe sie an. Ihre graue Iris ist voller Linien, als wäre ihre Pupille eine schwarze Sonne mit schwarzen Strahlen. Direkt von vorne betrachtet, ist ihre Nase leicht schief, ihre Lippen sind voll. Ich kann nicht sagen, ob sie schön ist. Sie ist zu intensiv für die üblichen Grundmuster, zu viel irgendwie. Aber eben gerade hat sie meine ganz privaten Gedanken in Worte gefasst.
»Ja«, sage ich. »Genauso war es. Er war programmiert, zu sterben.«
»Das ist furchtbar ungerecht«, sagt Silja.
»Und deine Mutter?«, frage ich. »Du hast gesagt, sie hätte sich das Leben genommen?«
Silja nickt. »Ich war erst drei Jahre alt. Zwischendurch bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich mich überhaupt an sie erinnere. Vielleicht sind es nur Dinge, die man mir erzählt hat, oder Bilder, die ich gesehen habe. Aber ich bin ziemlich sicher, dass ich mich an ihre Haare erinnere. Dunkel waren sie, etwas widerspenstig und doch weich. Sie …«
Ihr Blick lässt mich los und schweift zu den Fotografien an der Wand, zu den gesammelten Erinnerungen.
»Sie hieß Ariadne«, sagt Silja nach einigen Sekunden. »Theseus hat mit Hilfe des Fadens der Ariadne wieder aus dem Labyrinth herausgefunden. Aber meine Ariadne hat offenbar den Faden verloren. Jedenfalls wurde ihre Krankheit immer schlimmer.«
»Welche Krankheit?«, frage ich.
»Im Kopf. Ein kranker Geist. Sie war wohl schon immer etwas sonderbar, angespannt und unsicher, aber nach meiner Geburt wurde es definitiv heftiger. Papa meint, dass sie mich zu sehr geliebt hat, dass sie besessen war von dem Gedanken, mir könnte was zustoßen und dass sie nicht als Mutter taugt. Der Psychologe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat behauptet, Papa hätte das nur gesagt, damit ich nicht glaube, sie hätte mich nicht geliebt und nur deshalb hätte sie mich verlassen können. Aber ich bin sicher, dass der Psychologe lügt. Papa sagt immer die Wahrheit. Er ist durch und durch ehrlich. Egal, was ist. Mama ist wahrscheinlich schon lebensuntauglich geboren.«
»Das hört sich aber schrecklich an.«
Silja sieht mich an. »Ist es auch. Und es ist doch schon merkwürdig. Eine Mutter stirbt und ein dreijähriges Kind bleibt zurück. Für deine Mutter ist es genau umgekehrt. Ein dreijähriges Kind stirbt und eine Mutter bleibt zurück. Das ist irgendwie noch ungerechter. Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben. Meine Mutter ist einfach nur zu früh gestorben.«
»Wie …«
Ich breche meine Frage ab, bin unsicher, ob man fragen kann, wie sie sich das Leben genommen hat. Aber Silja versteht mich auch ohne Worte.
»Sie hat sich bei einem Heimurlaub aus der Psychiatrie in der Kleiderkammer erhängt. Papa war nur kurz im Supermarkt beim Einkaufen. Mitten am Nachmittag.«
»Und du?«
»Ich muss zu Hause gewesen sein. Aber ich erinnere mich an nichts. Ich gehe davon aus, dass ich nichts gesehen oder mitbekommen habe.«
Ein kalter Schauer durchrieselt mich, Bilder ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Eine Wohnung, ein kleines Kind und eine kranke Mutter mit dunklem, widerborstigweichem Haar. Ein Strick. Ein Vater, der jeden Moment vom Einkaufen nach Hause kommen kann. Warum ist die Welt manchmal so schrecklich grausam?
Andere Bilder in meinem Kopf. Eine andere Mutter, meine eigene, die durch ihre Wohnung rennt und schreit: »Anders, ruf einen Krankenwagen! Es ist was mit Anton!« Eine offene Tür. Auf dem Boden liegt ein Kind. Es sieht aus, als würde es schlafen.
Die Erinnerungen schnüren mir den Hals zu. Ich habe mir so oft gewünscht, einfach weinen zu können. Beim Weinen lösen sich manche Sachen auf und werden rausgespült. Aber manche Dinge sind vielleicht zu groß und zu hart, zu fest und zu stachelig. Manches lässt sich vielleicht niemals wegspülen. Ich sehe Silja an und sie mich. Sie weint auch nicht. Aber ich weiß, dass es in ihr auch etwas Hartes gibt und Dornen. Wir tun nichts. Wir nehmen uns nicht in den Arm, halten uns nicht an den Händen, aber wahrscheinlich sind wir uns trotzdem in diesem Moment so nah, wie sich zwei Menschen in ihrer Einsamkeit nur sein können.
»Was machst du, wenn es zu weh tut?«, fragt Silja. »Du hast total geschockt ausgesehen, als ich auf dem Brückengeländer balanciert bin. Aber gerade du müsstest doch verstehen, dass man manchmal ganz deutlich spüren will, dass man lebt, existiert.«
Ich
Weitere Kostenlose Bücher