Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
Jemand, der ihr richtig fies eins auswischen will.«
Maja macht eine Pause. Siljas steht breitbeinig und mit geballten Fäusten da, ihre Fingerknöchel treten weiß hervor. Ihr Brustkorb hebt sich heftig mit jedem Atemzug und ihr Gesicht glüht rot. Wenn sie schuldig ist, spielt sie auf alle Fälle verdammt gut.
Da tauchen plötzlich kurze Erinnerungsfetzen in meinem Kopf auf. Lovisa, die mir aus der Lehrergarderobe entgegenkommt. Ihr angespannter Blick und die schwarze Schultertasche. Emelie und Clara am Ende des Flurs. Das Schulterklopfen und ihr Lachen.
Die Puzzleteile fallen an ihren Platz und ergeben ein gestochen scharfes Bild. Ich kann es nicht glauben. Nicht einmal Emelie kann so infernalisch gemein sein, Silja einen Diebstahl, ein regelrechtes Verbrechen, anzuhängen.
Ich schiele vorsichtig zu Kücheneinheit vier, wo Emelie, Lovisa, Clara und Camilla arbeiten. Das darf doch nicht wahr sein! Und wenn, dann gibt sich derjenige hoffentlich zu erkennen und sagt, das sei nur ein gemeiner Scherz gewesen. Damit das aus der Welt ist.
Maja räuspert sich wieder.
»Ich hoffe, euch ist der Ernst der Situation bewusst«, sagt sie. »Mehrere Lehrer wollen den Diebstahl anzeigen. Falls also einer von euch mehr über den Vorfall weiß, schlage ich vor, es jetzt zu sagen!«
Lovisa sieht sich hektisch im Raum um. Eine halbe Sekunde bleibt ihr Blick an mir hängen. Ich schaue eilig weg und starre die Hähnchenstreifen auf der Arbeitsplatte an. Wenn Emelie rauskriegt, dass ich Lovisa mit der Tasche aus der Lehrergarderobe habe kommen sehen … Mein Herz hämmert und es rauscht in meinen Ohren.
Da scheppert es plötzlich laut. Alle Köpfe drehen sich in die Richtung des Geräusches. Line hat den Bratenwender, den sie in der Hand hatte, ins Spülbecken geworfen.
»Silja war es nicht«, sagt sie. Ganz langsam und sehr deutlich. Wir sind es alle nicht gewohnt, dass Line ohne vorherige Aufforderung etwas sagt. Keiner lacht, keiner verdreht die Augen oder schneidet Grimassen. Alle glotzen sie nur schweigend an. Lines Blick ist auf Maja gerichtet, blass und verbissen starrt sie die Psychologin an, nicht Silja, keinen Mitschüler, nicht Cecilia, nur Maja.
»Aha«, sagt Maja. »Und woher weißt du das?«
Line zögert eine Sekunde, dann holt sie Luft und nimmt Anlauf. »Weil ich sie gesehen habe. Sie war in der großen Pause im Aufenthaltsraum, dann war sie noch mal kurz bei ihrem Schrank. Und auf dem Klo.«
»Hast du sie bis auf die Pipibox verfolgt?«, zieht Lovisa sie auf, aber niemand lacht.
Line rührt sich nicht.
»Nein, aber ich habe sie wieder rauskommen sehen«, sagt sie. »Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass es einen Geheimgang vom Klo in die Lehrergarderobe gibt.«
Silja sieht Line an. Sie hat die Hände immer noch zu Fäusten geballt, aber nicht mehr so fest. Maja verschränkt die Arme vor der Brust.
»Es ist nicht sicher, dass es tatsächlich in der langen Pause passiert ist«, sagt sie. »Das ist nur eine Vermutung. Es kann auch irgendwann im Laufe des Vormittags gewesen sein, vielleicht sogar zu Beginn der Mittagspause.«
»Ich habe Silja die ganze Zeit gesehen«, sagt Line. »Sie war es nicht.«
Meine Arme und Beine fühlen sich an wie eingeschlafen, ich muss mich gegen den Tisch hinter mir lehnen. Und da stehe ich und schweige, schreckerstarrt, weil Emelie wahrscheinlich ahnt, dass ich weiß, wer die wahre Schuldige ist; aber die Einzige, die sich traut, etwas zu sagen, ist Line. Sie ist sicher, dass es nicht Silja war, weil sie sie die ganze Zeit im Blick hatte. Wir haben alle mitbekommen, dass sie Silja in den letzten Tagen wie ein Schatten gefolgt ist, also wissen wir auch, dass sie die Wahrheit sagt. Erstaunlich ist nur, dass Line das vor der ganzen Klasse sagt!
Plötzlich kommt ein Geräusch von Silja, eine Art Zischen. Ich kann nicht genau ausmachen, ob es eher ein Schluchzen oder ein Seufzer ist. Sie fährt sich mit den Fingern durchs Haar und sieht sich um, nimmt Emelie ins Visier, die an der Kücheneinheit Nummer vier steht und mit ihren Fingernägeln beschäftigt ist. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es nicht glauben. Wenn ich in der Tür zur Lehrergarderobe nicht Lovisa mit der schwarzen Schultertasche begegnet wäre. Wenn ich nicht das Schulterklopfen beobachtet und ihr Lachen gehört hätte.
Maja legt Silja eine Hand auf die Schulter.
»Geh jetzt zurück in deine Gruppe«, sagt sie. »Ich werde im Sekretariat berichten, wie das Gespräch hier
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