Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
unserer Mitschüler uns mit ungläubigen Gesichtern anstarrt. So etwas passiert nicht im wirklichen Leben, denke ich. Gleich hinter uns kommt Leo. Er nickt mir kurz und möglicherweise einen Hauch verdutzt zu, schließt sich uns aber an, ohne zu fragen. Als Emelie, Lovisa und Clara durch den Flur auf uns zukommen, setzt mein Herz vor Schreck aus. Jeder von uns hat Emelie gegenüber wahrscheinlich seine persönliche Strategie. Einige würden sonst was dafür tun, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ich habe immer alles dafür getan, ihren Blick möglichst nicht auf mich zu ziehen. Weil ich davon ausgehe, dass nichts Positives dabei für mich rausspringt. Und jetzt stehe ich hier und Emelie fixiert mich mehrere Sekunden mit ihren schwarz umränderten Augen. Was hat das zu bedeuten? Bin ich die nächste Kandidatin, die vom Rektor aus der Klasse geholt wird? Angeklagt für irgendein anderes Vergehen?
Da kommen Tonja, Lukas und Nils und direkt hinter ihnen Britt mit dem Schlüsselbund. Das erspart mir für den Moment eine Erklärung. Britt hat gerade die Tür aufgeschlossen, als Silja atemlos und zerzaust um die Ecke biegt und uns breit anlächelt.
»Morgen!«, keucht sie. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch schaffe. Mein Wecker hat heute Morgen nicht geklingelt! Das war echt der Hammer am Samstag!«
Sven lächelt mich an.
»Die meiste Zeit jedenfalls«, sagt er und ich nicke zustimmend.
In der Klasse sitze ich wie gewohnt neben Tonja. Sie starrt zuerst geradeaus, aber bevor sich der Lärm gelegt hat und der Unterricht beginnt, dreht sie den Kopf zur Seite und sieht mich an.
»Und?«, sagt sie. »Bist du jetzt mit Sven zusammen, oder was?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein, wir sind nur Freunde.«
Das hört sich so bescheuert an, wie es ist; das Wort »nur« passt zu überhaupt nichts, was mit Sven zu tun hat, aber ich weiß einfach nicht, was ich sagen soll. Es ist so viel passiert am letzten Wochenende, dass ich es selber kaum fassen, geschweige denn Tonja erklären kann. Sie sieht mich ein paar Sekunden schweigend an, dann wendet sie den Blick hastig nach vorn. In diesem Augenblick kommt es mir schier unmöglich vor, jemals wieder an sie heranzukommen.
Britt erzählt etwas von einer Videoübung. Unser nächstes Referat sollen wir vor laufender Kamera halten und uns hinterher die Aufnahme ansehen und überlegen, was wir verbessern können. Ich finde es schrecklich, mich auf Video zu sehen. Ich gucke zu Nils, der wie gewohnt schräg vor mir sitzt. Hat er mich mit Sven gesehen? Er ist ja ziemlich spät gekommen. Aber selbst, wenn er uns nicht gesehen hat, gehört hat er bestimmt was. An dem Tag, als Silja mit Sven abgezogen ist, hat die Neuigkeit wie der Blitz die Runde gemacht. Ich bilde mir natürlich nicht ein, auch nur annähernd so interessant zu sein wie Silja, aber immerhin hat er seinen Arm um meine Schulter gelegt. Interessiert Nils das überhaupt? Oder hat er erleichtert aufgeatmet?
Ich schaue wieder unsicher zu Tonja. Die Prinzessin der hundert Lächeln lächelt nicht einmal ansatzweise, ihr Blick ist stur auf Britt gerichtet. Wenn sich etwas so einfach zwischen uns schieben kann, wenn unsere Freundschaft nicht mal einen Fehltritt wie den meinen aushält, was ist das dann für eine Freundschaft? Hat Silja vielleicht doch recht? Bin ich nur Tonjas treudoofes Anhängsel?
Quatsch, natürlich nicht. Oder doch?
Und was soll ich jetzt tun? Mich entschuldigen, was sonst. Das wäre nun wirklich mal ein Grund, mich zu entschuldigen. Ich habe Tonja angelogen. Wäre es anders, wenn ich offen mit ihr geredet hätte? Wenn ich ihr ehrlich gesagt hätte, dass ich zu dem Fest gehe, obwohl sie dagegen war und selber nicht hinwollte? Wäre sie jetzt weniger sauer auf mich? Ich bin mir nicht sicher. Aber wissen würde ich es schon gern.
Während Britt Beurteilungsbögen für unsere Aufsätze zur »Nachhaltigen Entwicklung« verteilt, riskiere ich, dabei erwischt zu werden, wie ich einen Brief an Tonja schreibe.
Entschuldige, dass ich dich angelogen habe. Ich wollte so schrecklich gerne zu der Fete. Hätte es was geändert, wenn ich dir am Samstag gesagt hätte, dass ich auf alle Fälle gehe?
Tonja liest den Zettel, schreibt mit großen Buchstaben NEIN darauf und legt ihn zurück auf meinen Tisch.
Okay.
Jetzt weiß ich es wenigstens.
Ich versuche, nicht daran zu denken. Was soll ich machen, wenn Tonja wirklich nichts mehr von mir wissen will? Wenn ich akzeptieren muss, dass sie und ich nicht mehr
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