Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
wie Emelie nicht im Traum daran denken würde, Line ihren Lippgloss zu leihen. Aber so ist er nicht, das weiß ich jetzt. Für Sven scheint das Ganze ein Spiel zu sein. Vielleicht verstehen er und Silja sich deshalb so gut. Vielleicht hat sie ihm gezeigt, dass noch mehr aus dem Spiel herauszuholen ist, als er bisher dachte, dass man sich fast alles erlauben kann. Die beiden passen wirklich gut zusammen. Silja und Sven. Äußerlich und innerlich.
Ich schiele unauffällig zu ihnen rüber, als wir durch die Glastüren gehen und in den ersten Flur rechts abbiegen, in dem der Musiksaal liegt. Wenn Sven und Silja zusammenkommen und ich mit Silja befreundet bin, gehöre ich indirekt ja auch dazu. Das würde mir gefallen, zu seinem Freundeskreis zu zählen.
Jetzt ist die Volksmusik deutlich zu hören, trotz geschlossener Doppeltür. Ich drücke die Türklinke runter und ziehe die Tür vorsichtig auf. Silja guckt über meine Schulter, ehe wir alle hineinschlüpfen.
Der Musiksaal ist ansteigend und hat halbrund angeordnete Stuhlreihen mit Klappsitzen. Ingela steht an der vorderen Kante des halbkreisförmigen Podiums und spielt konzentriert auf ihrer Geige. Sie bemerkt uns erst, als Leo beim Hinsetzen aus Versehen den Sitz neben sich hochklappen lässt. Sie bricht mitten im Takt ab und sieht uns verwundert an, der Bogen liegt noch immer auf den Saiten. Die Sonne scheint durch die hohen Fenster und bringt ihr widerborstiges Haar zum Leuchten, das wie immer in alle Richtungen absteht. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es nicht zu bändigen ist oder ob Ingela sich einfach nicht darum schert.
»Ist es okay, wenn wir zuhören?«, frage ich.
»Ja, klar …«, sagt Ingela verdutzt. »Aber ich übe nur.«
Sie zögert ein paar Sekunden, dann spielt sie weiter. Als die Melodie verklungen ist, applaudieren wir. Ingela sieht verlegen und etwas nervös aus. Die Situation ist für sie genauso ungewohnt wie für uns.
»Schade, dass du nur so ’n Gedudel spielst«, sagt Leo. »Sonst könntest du in unserer Band mitspielen. Bei vielen Rocksongs passt Geige super.«
Ingela lächelt unsicher. Dann spielt sie das Intro von The Final Countdown . Sven klatscht begeistert und lacht und Leo springt vom Stuhl auf.
»Warte!«, ruft er und läuft nach vorne, stöpselt das Kabel von dem schwarzen Keyboard des Musiklehrers ein und spielt mit der rechten Hand das Intro mit, während er mit der linken den Ton justiert.
Dann spielt er plötzlich einen ganz anderen Rocksong. Ich kenne ihn, komme aber nicht drauf, wie er heißt. Ingela hört ein paar Sekunden zu, dann steigt sie problemlos ein. Leo erhöht das Tempo und grinst breit, als Ingela die Führung übernimmt und improvisiert, bis er wieder einsteigt. Ich sehe Silja an, sie ist genauso beeindruckt wie ich. Leo am Keyboard in seinem schwarzen T-Shirt mit den Lederarmbändern und den Nieten sieht total cool aus. Wie ein echter Rockstar. Als sie Minuten später aufhören zu spielen, schüttelt er sich das Haar aus dem Gesicht und sieht Ingela an, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Du spielst verdammt gut!«, sagt er. »Aber warum spielst du nur Volksmusik?«
»Weil mir die besser gefällt«, antwortet Ingela aufrichtig. »Aber das hier macht auch Spaß. Es ist immer lustiger, mit anderen zusammen zu spielen.«
Sie wirft einen Blick auf die Uhr an der Wand.
»In fünf Minuten fängt Mathe an«, sagt sie und verstaut die Geige in dem schwarzen Futteral, das sie immer an einem breiten, bunten Gurt auf dem Rücken trägt.
Wir holen unsere Bücher und gehen zur Klasse. Leo und Sven bleiben unterwegs stehen und unterhalten sich mit ein paar Jungs aus der 9A. Silja und ich gehen weiter.
»So würde ich auch gerne spielen können«, sagt Silja neidisch. »Spielst du ein Instrument?«
Ich schüttele den Kopf. »Nö. Aber ich stell es mir auch toll vor.«
»Ja, oder? Das ist doch voll cool, wenn man seine Geige oder Gitarre auspackt und einfach loslegt. Hast du Ingelas Bogen gesehen, wie der über die Saiten gewischt und gehüpft ist, als wäre es das Einfachste auf der Welt? Wie ein Profi!«
»Ich glaube, sie spielt, seit sie vier ist«, sage ich.
»Cool.«
Ich sehe Silja von der Seite an. Ihre dunklen Haare hängen ihr wie ein lockiger Vorhang halb ins Gesicht und über den Hals, die Schultern und den Rücken. Die Nase ist leicht geschwungen und die Lippen sind füllig. Ihre Brüste wippen leicht beim Gehen, und die Nägel ihrer Finger, die das Mathebuch halten, sind rosa
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