Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
provozierenden Gerechtigkeitsfimmel bittet mich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Aber was passiert dann mit Silja?
Wenn die Beweise fehlen, den wahren Schuldigen festzunageln, dürfte es noch schwieriger sein, jemanden festzunageln, der nachweislich unschuldig ist. Aber so einfach tickt die Welt nicht.
Direkt vor dem Sekretariat geht nach links ein kurzer Flur ab, der durch eine Glastür auf den Schulhof rausführt. Ich starre auf die Tür, und mich packt der Impuls, einfach wegzurennen, weit weg, egal wohin. Stattdessen presse ich die Fingernägel in die Handballen, beiße die Zähne zusammen und gehe weiter. Es hat keinen Sinn, wegzulaufen, es gibt kein Entrinnen. Ich würde es nur hinausschieben und noch schlimmer machen, wenn ich abhaue. Besser, ich bringe es so schnell wie möglich hinter mich.
Silja sieht blass, aber energisch aus. Emelie und ihr Hofstaat sind bereits dort, als wir in den kleinen Konferenzraum neben dem Büro des Rektors geführt werden. Line ist auch da. Silja und ich setzen uns neben sie. Ich komme mir vor wie bei einer dieser Gerichtsverhandlungen im Fernsehen. Emelie gähnt. Ich weiß nicht, ob als bewusste Demonstration oder ob das ein echter Gähner ist.
Der Rektor, Maja, Britt, Mattsson und Grace sind anwesend. Warum ausgerechnet die beiden Letztgenannten als Vertreter des Lehrerkollegiums dabei sein müssen, weiß ich nicht. Ich empfinde es fast als persönlichen Angriff gegen mich, dass Grace dabei ist, eine der wenigen Lehrerinnen, mit der ich echte Schwierigkeiten habe. Und dann Mattsson, der unerschütterlich von Siljas Schuld überzeugt ist.
Der Rektor trägt ganz sachlich vor, was vorgefallen ist und welche Sachen fehlen. Grace vermisst offensichtlich ihre Brieftasche mit ihrer Kreditkarte, dem Führerschein und einer größeren Summe Geld. Sie funkelt Silja und mich während der Ausführungen des Rektors mehrmals an. Das macht mich wütend. Ich bin als Zeugin hier, nicht als verdächtigte Diebin!
Camilla schaut mit großen Augen von einem zum anderen. Was, wenn sie mein Handy tatsächlich im Flur gefunden hat und unschuldig in die Sache reingezogen wurde? Das könnte ich dann auch noch auf mein Gewissenskonto verbuchen.
Wahrscheinlich habe ich nur eine zu lebhafte Fantasie. Es ist durchaus möglich, dass Emelie und ihr Hofstaat unschuldig sind. Aber jetzt erwartet Silja verständlicherweise, dass ich gegen die Mädchen aussage.
Egal was ich tue, alles ist falsch.
Aber sosehr ich auch grübele und mich selbst zur Vernunft zu bringen versuche, weiß ich tief in meinem Innern, das Lovisa die Sachen an diesem Tag gestohlen hat, ich weiß, dass sie aus dem Garderobenraum der Lehrer gekommen ist, die Tasche voller Diebesgut. Und das alles nur, um Silja eins auszuwischen. Ich kann es nicht beweisen, insofern haben sie recht, und ich habe den eigentlichen Diebstahl nicht beobachtet, auch nicht, dass Lovisa Dinge in ihrer Tasche hatte, die nicht ihr gehören, aber ich weiß es trotzdem. Ihr Gesichtsausdruck, der Empfang der anderen, mein verschwundenes Handy und die idiotische Anzeige, die kein halbwegs intelligenter Dieb so in die Zeitung gesetzt hätte – es passt alles zusammen.
Wenn Emelie als Siegerin aus dieser Geschichte hervorgeht, hat sie ihre Macht noch weiter zementiert und ausgeweitet. Dann hat sie sozusagen einen Freifahrtschein. Danach wird sich niemand mehr trauen, sich gegen sie zu stellen, möglicherweise nicht einmal mehr Silja.
Aber warum, warum, warum bleibt alles an mir hängen? Der Rektor ist am Ende seiner Ausführungen. Als Erstes wendet er sich an Line.
»Du sagst, dass Silja es nicht gewesen sein kann, weil du sie den gesamten Freitagvormittag im Blick hattest«, sagt er. »Stimmt das?«
Line nickt.
»Dir ist schon klar, dass sich das merkwürdig anhört, oder? In meinen Ohren hört sich das an, als hättest du dir das ausgedacht, um deine Freundin zu schützen.«
Line nickt wieder.
»Aber du bleibst dabei, dass das die Wahrheit ist?«
»Ja«, sagt Silja. »Silja war es nicht.«
»Aber du warst nicht mit Silja zusammen ? Du hast sie nur beobachtet? Mehrere Stunden?«
Clara kichert und wirft Emelie einen kurzen Blick zu.
»Pervers«, murmelt Lovisa.
Line antwortet nicht. Silja sieht sie an, dann mich, und obwohl ich noch gar nicht an der Reihe bin, weiß ich jetzt schon, dass das gehörig in die Hose gehen wird. Und ich bin mit einem Mal so müde. Es gibt keine guten Alternativen, nur schlechte, noch schlechtere und katastrophale, und
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