Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
die Sache mit Sven, wie er als Freund ist. Ich erzähle ihr die Dinge, von denen ich denke, dass sie ihr gefallen. Zum Beispiel, dass er tanzt und richtig aufmerksam ist und nett. Und dass der Grund, warum ich Samstagnacht nicht nach Hause gekommen bin, war, dass ich neben ihm auf einem Bett eingeschlafen bin.
Nachdem wir uns verabschiedet haben, fühlt es sich leider nicht mehr so gut an. Ich habe mich von meiner Erleichterung mitreißen lassen und mehr erzählt, als vielleicht gut ist. Zum Beispiel, dass Sven tanzt. Er hat mir das im Vertrauen erzählt, und alle anderen in der Schule glauben, er gehe dienstagabends zum Kampfsport, weil irgendwer ihn aus dem Gebäude hatte kommen sehen, wo auch das Kampfsporttraining stattfindet. Und er hat sie in dem Glauben belassen, wofür er sicher seine Gründe hat.
Ich versuche, das Unbehagen abzuschütteln. Tonja und ich haben uns immer alles erzählt. Habe ich etwa nicht eine detaillierte und exakte Beschreibung vom Verlust ihrer Jungfräulichkeit bekommen und war das nicht auch ein ziemlich offensichtliches Eindringen in Lukas’ Privatsphäre? Tonja und ich wissen alles voneinander, so ist es immer schon gewesen. Niemand kann erwarten, dass wir Geheimnisse vor der anderen haben. Siljas Affäre mit dem Referendar gehört auch dazu, weil Tonja verstehen sollte, wie spannend das war bei dem Fest, wo die meisten älter waren als wir. Und ich wollte ihr vor Augen führen, dass man auch so sein kann wie Silja, die tut, wozu sie Lust hat. Silja ist der lebende Beweis, dass Hindernisse dazu gemacht sind, sie zu überwinden. Wenn sie auf dem Brückengeländer balancieren, einen Lehrer verführen oder das Lindex-Schaufenster umdekorieren will, dann tut sie es einfach. Ich fühle mich schon ganz berauscht von diesem Gefühl von Freiheit, wenn ich ihr nur dabei zugucke. Aber Tonja hält sie immer noch für verrückt, und alles, was ich ihr erzähle, bestätigt sie nur in ihrer Auffassung.
Immerhin reden wir wieder miteinander.
Ich beschließe, das Grübeln sein zu lassen und stattdessen zu schlafen. In der letzten Nacht habe ich kein Auge zugetan, und auch wenn ich mich gar nicht müde fühle, bin ich morgen wahrscheinlich tot, wenn ich jetzt nicht schlafe.
Leichter gesagt als getan. Die Gedanken fahren Karussell und ich liege noch lange wach. Als ich endlich einschlafe, weit nach Mitternacht, fliegen die Träume wie vom Sturm zerrissene Stofffetzen durch meinen Schlaf. Erinnerungsfetzen, unzusammenhängende Fragmente, die wild durcheinanderwirbeln und sich vermischen, bis ich nicht mehr weiß, wo vorne und wo hinten ist. Als der Wecker klingelt, bin ich müde und wie gerädert und weiß nicht genau, wie ich den Tag überstehen soll. Aber dann denke ich an Svens Lächeln und zwinge mich aus dem Bett.
Ich ziehe Tante Vivis Siebzigerjahrejeans an. Ich weiß nicht, ob ich glaube, darin stärker zu sein, weil sie so anders ist. Stark wie Silja.
Tonja wartet an der Kreuzung auf mich.
Es ist gerade mal fünf Tage her, dass wir uns das letzte Mal hier getroffen haben, aber mir kommt es viel länger vor. Natürlich freue ich mich, sie mit ihrem rosa Rad dort stehen zu sehen, aber zugleich wird mir klar, dass dies auch das Ende des sonderbaren Ausnahmezustands bedeutet, in dem ich mich ein paar Tage lang befunden habe. Von nun an werde ich nicht mehr mit Silja, Leo und Sven durch die Schulflure schlendern. Tonja hat mich in Gnaden wieder aufgenommen und genau das wollte ich doch. Aber …
»Hallo«, begrüßt sie mich.
»Hallo.«
»Hast du Mathe gemacht?«
Mist, natürlich nicht. Die Mathehausaufgaben standen in den letzten Tagen definitiv nicht an erster Stelle meiner Prioritätenliste. Andere Hausaufgaben auch nicht, was das betrifft.
»Hab ich vergessen«, sage ich. »Aber ich glaube, allzu viele Aufgaben sind nicht mehr übrig.«
»Du kannst meine abschreiben«, sagt Tonja.
»Danke.«
Und damit fahren wir los, vorbei am alten Krankenhausgelände, den Mårtensweg runter. Um kurz vor acht sind wir am Fahrradunterstand. Wir haben gerade unsere Räder abgeschlossen und wollen losgehen, als ein dunkelblauer Renault vor dem Schultor bremst. Die Beifahrertür fliegt auf und Emelie steigt mit ihrer weißen Tasche aus. Sie hebt den Blick und sieht uns, und in dem Augenblick ist mir klar, dass sie es weiß. Das Blut gefriert mir in den Adern, und ich fühle mich wie in einem dieser Träume, wo man vor irgendwas ganz Schrecklichem zu fliehen versucht, sich aber nur in Zeitlupe
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