Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
Begegnung mit Emelie völlig durch den Wind bin, wandert mein Blick automatisch zu Sven, als wir die Klasse betreten. Er erwidert den Blick und lächelt, obwohl Leo gerade auf ihn einredet. Ich muss mich konzentrieren, weiter zu atmen, vergesse leicht, wie das geht, wenn er in der Nähe ist. Ein und aus, nicht zu schnell. Silja sitzt neben Line und kratzt Lackreste von ihrem Zeigefingernagel. Ich würde ihr gerne sagen, dass Emelie weiß, dass ich sie angeschwärzt habe, aber dazu ist es zu spät, weil Britt schon ihr erstes »Jaaaaa« ausgestoßen hat, ehe Tonja und ich überhaupt sitzen.
Tonja, die ihre Hirnfunktionen definitiv besser im Griff hat als ich, hat die Hausaufgabe in ihrem Block aufgeschlagen und schiebt ihn an den Tischrand, damit ich abschreiben kann. Hektisch schlage ich meinen karierten Block auf und versuche die Lösungen abzuschreiben, ehe Britt uns ins Visier nimmt. Das gelingt so weit ganz gut, außer dass ich keine Ahnung habe, welche Antworten zu welcher Aufgabe gehören. Aber Britt hat offenbar andere Pläne, sie ist schon beim nächsten Abschnitt über die Quadratwurzel. Sie gibt eine kurze Einführung, und als sie damit am Ende ist, steht die Schulschwester mit einem Tablett voller kleiner Plastikbecher mit Fluorspülung in der Tür. Sie wird wie üblich mit genervtem Stöhnen begrüßt, aber Protest hat keinen Sinn.
»Und jetzt spülen wir alle gemeinsam!«, sagt sie auf ihre muntere, aber keineswegs verhandelbare Art und überwacht, dass auch keiner von uns vor Ablauf der vorgesehenen zwei Minuten die Flüssigkeit ausspuckt.
»Wunderbar«, sagt Britt. »Ihr schafft bestimmt eine Aufgabe, solange es so ruhig ist. Seht euch das Beispiel in dem Kästchen an, das ist sehr aufschlussreich.«
Ich schaue in das aufgeschlagene Buch. Ich habe nichts gegen Mathe, aber sich jetzt auf Quadratwurzeln zu konzentrieren scheint mir schier unmöglich.
Als die Stunde zu Ende ist, wartet Maja schon auf dem Flur vor der Tür. Sie grüßt alle und bittet dann Line, Silja, Emelie, Lovisa, Clara, Camilla und mich, kurz zu bleiben.
»Wenn ihr bitte um neun Uhr im Sekretariat sein würdet«, sagt sie. »Ich habe Helena Wiik vorgewarnt, dass ihr nicht zu Sozialkunde kommt.«
»Worum geht’s?«, fragt Camilla verwirrt.
»Das wisst ihr sicher. Also, bis in zehn Minuten!« Damit geht sie.
Emelie, Lovisa und Clara gehen auch. Camilla beeilt sich, hinter ihnen herzulaufen. Lukas und Nils haben sich Tonja angeschlossen und kommen auf mich zu.
»Warum müsst ihr zum Rektor?«
»Vendela ist stärker in die Sache verstrickt, als wir wussten«, sagt Tonja und erklärt den Jungs die aktuelle Lage.
Ich ergänze, was Tonja auslässt, und Nils beobachtet mich die ganze Zeit aufmerksam. Ich werde rot, weil ich immer noch nicht weiß, was Sven eigentlich zu ihm gesagt hat.
»Oh, verdammt«, ist Lukas’ Beitrag zur Unterhaltung.
Unten an den Schränken holen alle anderen ihre Bücher und Mappen für die nächste Stunde. Ich nicht. Ich lege mein Mathebuch hinein und schließe ab.
»Tu jetzt nichts Dummes«, sagt Tonja, bevor sie geht. »Bitte, Vendela, sei vernünftig!«
Plötzlich wird mir schlecht. Ich laufe auf die Toilette, aber sobald ich die Tür hinter mir zugemacht habe, beruhigt sich mein Magen wieder. Ich trinke etwas Wasser und schließe die Augen einen Moment.
Als ich wieder rauskomme, steht Silja da.
»Komm, beeilen wir uns«, sagt sie. »Das ist vielleicht nicht der passende Moment, zu spät zu kommen. Schöne Hose, übrigens!«
Wie schafft Silja es, in dieser Situation noch auf so etwas zu achten? Trotzdem freue ich mich, dass sie das sagt, auch wenn ich schon längst nicht mehr glaube, dass die Hose mich auch nur halb so stark und selbstsicher machen kann wie sie.
Eigentlich hat Emelie recht. Wirklich was gesehen habe ich nicht. Rein theoretisch könnte Lovisa tatsächlich einfach nur auf dem Lehrerklo gewesen sein, ohne vorher zu fragen. Und sicher ist es übertrieben, jemandem auf die Schulter zu klopfen, weil er unerlaubt die Lehrertoilette benutzt hat, aber völlig abwegig ist es nicht.
Wenn ich mich an diese Version halte, hat Emelie mir mehr oder weniger versprochen, mich in Ruhe zu lassen. Oder mir zumindest mein Überleben in Aussicht gestellt. Sie hat mich nicht aufgefordert zu lügen, nur, nicht mehr in das Gesehene hineinzuinterpretieren, als ich beweisen kann. Und das ist so gut wie nichts.
»Tu jetzt nichts Dummes«, echot Tonjas Stimme in meinem Kopf. Tonja mit ihrem fast
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