Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
Vom Netzwerk:
lebhaft, »und Euch mit ihr allein lassen.«
    Ich erhob mich zu einer Verbeugung. Er kam mit seinem ausholenden und hinkenden Gang auf mich zu, nahm wieder, wie schon zuvor,
     meine Hände, die in den seinen fast verschwanden, und sah mich schweigend und mit einem Ausdruck von Freundschaft und Dankbarkeit
     an. Mein Kopf reichte ihm |352| gerade bis zur Brust. Welch hünenhafte Gestalt! Diese Knochen! Diese enormen Muskeln! Und wie robust müssen wohl die Organe
     in diesem gigantischen Körper sein! In der Stunde seines Todes wird sich die Seele des Fürsten nur schwer von einer so imposanten
     fleischlichen Hülle lösen, während die meine es beinahe schon zu Lebzeiten getan hat! Bei dem bißchen Materie in mir hätte
     mich der heilige Thomas von Aquino für einen Engel gehalten … Man möge mir diesen kleinen Scherz nachsehen. Die verrinnende
     Zeit braucht manchmal ein wenig Aufmunterung, ist doch das ganze Leben nur ein langes Warten auf den Tod.
    Ich setze mich und warte eine geraume Weile auf die Signora, was mich nicht verwundert, stehen doch die Damen in dem Ruf,
     niemals fertig zu werden. Ich weiß allerdings nicht, ob dieser Ruf berechtigt ist, denn ich kenne die Frauen kaum. Meine Mutter
     starb bei meiner Geburt, und meine übrige Familie ging kurz darauf bei einem Erdbeben zugrunde. Ich bin von stummen Nonnen
     großgezogen worden, die so konsequent schwiegen, daß ich wohl kaum sprechen gelernt hätte, wäre da nicht der alte Klostergärtner
     gewesen, bei dem ich wohnte und der mein Lehrer war.
    Erst mit zwanzig Jahren, als ich Rom zum ersten Mal verließ, habe ich richtige Frauen gesehen. Ihr Anblick verstörte mich
     so sehr, daß ich zunächst glaubte, sie gehörten einer anderen Spezies an als meine Nonnen. Einmal, weil letztere einen so
     faden Geruch ausströmten, wohingegen die Frauen auf der Straße von einem ganz besonderen Duft umgeben waren, von dem ich nicht
     zu sagen wußte, ob er mir gefiel oder nicht. Dann richteten sie ihre lebhaften, beseelten, strahlenden Augen ständig auf alles,
     was sie sahen. Und schließlich sprachen sie mit lauter, deutlicher Stimme, die in meinen Ohren wie Musik klang. Gleichwohl
     erfreuten mich diese Entdeckungen nicht, sondern erschreckten mich vielmehr, und bald darauf bekam ich einen Schock, der mich
     vollends einschüchterte: eine dieser Frauen – vielleicht war es Zufall – sah mich an. Meine Nonnen hielten die Augen gesenkt,
     und nie waren ihre Blicke den meinen begegnet; daraus erklärt sich, daß mir die Augen der richtigen Frauen sehr glänzend und
     sehr gefährlich vorkamen. Ihre Blicke sind wie lauter kleine Zangen, mit denen sie den andern packen und hin und her wenden,
     um ihn besser betrachten zu |353| können. So flüchtig und zufällig der Blick jener Vorübergehenden gewesen sein mag – er ließ mich am ganzen Leib erschauern,
     und seither machen mir die Frauen angst.
    Vielleicht ist es absurd, doch ich fühle mich unbehaglich in Erwartung der Signora, obwohl ich fest überzeugt bin, daß unsere
     Unterredung für ihre und des Fürsten Sache notwendig ist. Meine Lippen sind trocken, die Kehle ist mir wie zugeschnürt, und
     die zitternden Hände verstecke ich in meinen weiten Ärmeln. Ich fürchte vor allem, sie merkt, in welche Panik sie mich versetzt,
     mich, einen Mann, der vom Alter her ihr Vater sein könnte.
    Als sie endlich kommt, erhebe ich mich sofort; sie macht eine Handbewegung voller Grazie und sagt mit einer sanften, leisen
     Stimme:
    »Ich höre, Ihr wünscht mich zu befragen. Ich stehe Euch zur Verfügung, Pater.«
    Sie ist einen Kopf größer als ich und sieht mich mit ihren großen blauen Augen an, deren Licht mir so unerträglich erscheint,
     daß ich meinen Blick sofort senke, gerade so weit, daß ich sie noch sehen kann. Sie scheint mir sehr elegant angezogen, obwohl
     ich die Kleidungsstücke, die sie trägt, nicht zu benennen vermag. Ich bemerke indes, daß ihre Gewänder den Körper weder einengen
     noch plattdrücken, wie das bei meinen Nonnen der Fall war, sondern seinen Formen angepaßt sind, diese sogar noch zu betonen
     suchen, dünkt mich. Ihr lockiges blondes Haar ist so übermäßig lang, daß es ihre Fersen berührt und im Rhythmus ihrer Bewegungen
     hinter ihr herweht. Ihr Gesicht scheint mir in den glücklichsten Proportionen modelliert zu sein, die straffe Haut ist weiß
     und rosig, die Nase gerade, der Mund ein wenig groß, aber mit feingezeichneten Lippen und regelmäßigen, glänzenden

Weitere Kostenlose Bücher