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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Ihre Schönheit schien für ihn die letzte
     Bindung an das Leben geworden zu sein. Trotz seiner Schwäche und Abhängigkeit war er nicht selbstsüchtig; er bestand darauf,
     daß sie ihren täglichen Ausritt ohne ihn wiederaufnahm, denn er fand, das täte ihr gut.
    Auf Bitten Vittorias leistete ich während ihres Ausritts dem |430| Fürsten Gesellschaft, zumindest bis das Opium seine Schmerzen linderte und er, den Kopf zur Seite geneigt, einschlief.
    Am 12. November, wenn ich mich recht entsinne, fuhr er mit einem lauten Schrei aus dem Schlaf:
    »Aziza! Aziza!«
    Dann erblickte er mich an seinem Bett, das Bewußtsein kehrte ihm zurück, und mit der heiseren Stimme eines Mannes, der aus
     einem langen Schweigen auftaucht, fragte er mich:
    »Marcello, entsinnst du dich an Aziza?«
    »Eure kleine maurische Sklavin, die immer ein Stilett am Gürtel trug? Ich habe sie nie gesehen, doch ich kenne ihre Geschichte.«
    »Hast du von ihrem Ende gehört?«
    »Nein, Durchlaucht.«
    »In der Nacht, da ich Vittoria aus der Engelsburg herausholte und nach Montegiordano brachte, hat sich Aziza ihr Stilett ins
     Herz gestoßen.«
    »Aus Eifersucht?«
    »Nein. In einem an mich adressierten Brief erklärte sie, sie scheide nicht aus Haß oder Enttäuschung aus dem Leben, sondern
     weil sie zu nichts mehr nütze sei. – Wir alle sollten so handeln: gehen, wenn wir zu nichts mehr nütze sind.«
    Ich teilte diese Meinung nur allzusehr, doch ich hütete mich, es auszusprechen. Daß der Fürst schon an Selbstmord gedacht
     hatte, war offensichtlich. Wozu sonst sollte die geladene Pistole auf seinem Nachttisch dienen? Zweifellos hatte er nur deshalb
     noch nicht von ihr Gebrauch gemacht, weil er genau wußte, welcher Verdacht dann auf Vittoria fallen würde.
    Die Augen halb geschlossen, hub er mit leiser Stimme wieder an:
    »Ich habe von Aziza geträumt. Eines Nachts befand ich mich allein und gänzlich verloren in einem Wald, aus dem ich nicht mehr
     herausfand. Mit meinem kranken Bein schleppte ich mich dahin. Ich war sehr durstig und hatte große Angst. Plötzlich tut sich
     zwischen den Bäumen ein Weg auf, und eine offene Karosse mit vier Pferden fährt auf mich zu. Aziza sitzt darin, allein, in
     ihrem schönsten Kleid und in all ihrem Schmuck, wie am Tage ihres Todes.
    ›Komm! Steig ein!‹ sagt sie zu mir. ›Ich bring dich weg!‹
    Sie hilft mir auf den Sitz neben ihr, denn wegen meines |431| Beins schaffe ich es nicht allein. Ich spüre ihre Hand auf meinem Arm – sie ist sehr kräftig. Finger wie aus Stahl pressen
     sich in mein Fleisch. Ist das wirklich die kleine Aziza, die früher in meinen Armen dahinschmolz? frage ich mich.
    Doch die Karosse entführt uns mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Vor uns öffnet sich zwischen den Bäumen der Weg, und hinter
     uns schließt sich der Wald gleich wieder, so daß Umkehr unmöglich ist. Der Mond versteckt sich manchmal hinter den Bäumen,
     und Licht und Dunkelheit wechseln auf Azizas Gesicht. Sie hat sich mir zugewandt und lächelt. So zärtlich mir ihr Lächeln
     erscheint, wenn Schatten auf ihrem Gesicht liegt, so bedrohlich wirkt es auf mich, sobald ihr Kopf wieder ins Licht taucht.
     Indes, das dumpfe Stampfen der Hufe auf dem Waldboden und das Gebimmel der Glocken am Hals der Pferde beruhigen mich.
    ›Wohin bringst du mich, Aziza?‹
    ›Sieh den Kutscher an, dann weißt du es.‹
    Doch da ist kein Kutscher, und ich höre kein Hufgetrappel und keine Glöckchen mehr. Die Kutsche fährt noch genauso schnell
     wie bisher. Ich kann nichts sehen. Dichter Nebel hüllt uns ein, und ich errate nur am Plätschern vor uns, daß wir nun über
     den See gleiten. Nicht das kleinste Lüftchen bläht die Segel, nicht das geringste Rudergeräusch ist zu hören. Ich bin allein
     auf der Galeasse mit Aziza, die geheimnisvoll lächelt, und wieder frage ich:
    ›Wohin bringst du mich, Aziza?‹
    ›Sieh den Steuermann an, dann weißt du es.‹
    Ich drehe mich um, aber da ist kein Steuermann. Das Steuerruder pendelt ungehindert hin und her. Ich bemühe mich verzweifelt
     aufzustehen, um es festzuhalten, doch ich kann mich nicht erheben. Da erwache ich … Gib mir zu trinken, Marcello.«
    Er trinkt. Er ist bleich. Nach seiner langen Traumerzählung ist er sichtlich erschöpft. Doch in diesem Moment kehrt Vittoria
     von ihrem Ritt zurück – strahlend schön, das Haar zerzaust, lebhaften Blicks, mit rosigen Wangen –, und er ermannt sich, lächelt
     ihr sogar zu und wechselt einige Worte mit

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