Idoru-Trilogie - Gibson, W: Idoru-Trilogie - Virtual Light/Idoru/All Tomorrow´s Parties
entfernt ist, wenn er schläft. Morgen früh wird er sie unter seiner Jacke aufs Herrenklo bringen und ausleeren. Der alte Mann weiß, dass er momentan zu krank ist, um jedes Mal hinauszukriechen und den Gang entlangzugehen, aber so haben sie es vereinbart. Laney pisst in die Flasche und bringt sie hinaus, sobald er kann.
Er weiß nicht, warum der Alte ihn hierbleiben lässt. Er hat ihm Geld angeboten, aber der Alte baut nur weiter seine Modelle. Er braucht einen Tag, um eins fertigzustellen, und sie sind immer perfekt. Wohin verschwinden sie, wenn er sie fertig hat? Und woher kommen die Bausätze?
Laney hat die Theorie, dass der Alte ein Modellbau-Sensei ist, ein nationales Kulturgut; Kenner bringen ihm Bausätze aus aller Welt und warten nervös darauf, dass der Meister mit seiner einmaligen und dennoch seltsam lässigen Präzision, seinen Zen-Bewegungen ihre klassischen Gundams fertigstellt und jedem vielleicht einen klitzekleinen und irgendwie perfekten Fehler mitgibt, seine Signatur und zugleich eine Bestätigung der Natur des Universums. Weil in Wirklichkeit nichts perfekt, nichts jemals fertig ist. Alles ist ein Prozess, versichert sich Laney, zieht dabei den
Reißverschluss hoch und macht es sich wieder in seinem verdreckten Nest aus Schlafsäcken bequem.
Aber dieser Prozess ist weitaus seltsamer, als er erwartet hat, denkt er, während er ein Schlafsackende zu einem Kopfkissen an der Pappe zusammenknüllt, durch die er die harte Fliesenwand des Ganges spüren kann.
Trotzdem muss er hier sein, glaubt er. Wenn es einen Ort in Tokio gibt, wo ihn Rez’ Leute nicht finden, dann diesen. Er weiß nicht mehr genau, wie er hierhergekommen ist; um die Zeit, als das Syndrom eingesetzt hatte, war alles ein bisschen neblig geworden. Eine Art Zustandsveränderung, eine globale Verschiebung in seiner Wahrnehmungsweise. Mangelhaftes Erinnerungsvermögen. Nichts war haftengeblieben.
Jetzt fragt er sich, ob er nicht doch eine Abmachung mit dem Alten getroffen hat. Vielleicht hat er dafür – Miete oder was immer – bereits bezahlt. Vielleicht gibt der Alte ihm deshalb zu essen, vielleicht gibt er ihm deshalb Flaschen mit abgestandenem Mineralwasser und duldet den Pissegestank. Es könnte sein, aber er weiß es nicht genau.
Es ist dunkel da drin, aber er sieht Farben, undeutliche, plötzlich aufschimmernde Kugeln, Streifen und Pünktchen, die sich bewegen. Als ob die Nachbilder der DatAmerica-Ströme jetzt von Dauer wären, tief in die Netzhaut eingebrannt. Kein Licht dringt vom Gang herein – er hat jedes noch so winzige Loch mit schwarzem Klebeband abgedeckt –, und die Halogenlampe des alten Mannes ist aus. Rydell nimmt an, dass er dort schläft, aber er hat ihn nie dabei gesehen, hat nie Geräusche gehört, die auf einen Übergang vom Modellbau zum Schlaf hindeuten könnten. Vielleicht schläft der Alte aufrecht auf seiner Matte, einen Gundam in der einen, den Pinsel in der anderen Hand.
Manchmal hört er Musik aus den Kartons nebenan, aber nur ganz leise, als hätten die Nachbarn Kopfhörer auf.
Er hat keine Ahnung, wie viele hier in diesem Gang wohnen. Der Platz scheint für sechs Personen zu reichen, aber er hat mehr gesehen, und es kann sein, dass sie hier schichtweise unterkriechen. Nach acht Monaten kann er noch nicht viel Japanisch, aber selbst wenn er die Sprache verstünde, wären diese Leute wahrscheinlich doch bloß alle verrückt und würden nur über Sachen reden, über die Verrückte eben so reden.
Und natürlich würde ihn jeder, der ihn jetzt hier mit seinem Fieber, seinen Schlafsäcken, seinem Datenhelm, seinem mobilen Datenport und seiner Flasche mit abkühlender Pisse sehen könnte, ebenfalls für verrückt halten.
Aber das ist er nicht. Er weiß, dass er nicht verrückt ist, trotz allem. Er hat jetzt das Syndrom, die Geschichte, die jede Testperson aus dem Waisenhaus in Gainesville erwischt hat, aber er ist nicht verrückt. Nur besessen. Und die Besessenheit hat ihre eigene Gestalt in seinem Kopf, ihre eigene Struktur, ihr eigenes Gewicht. Er kann sie von sich selbst unterscheiden, kann differenzieren, und darum kehrt er zu ihr zurück, wann immer es nötig ist, und überprüft sie. Überwacht sie. Vergewissert sich, dass sie noch nicht mit ihm identisch ist. Sie erinnert ihn an einen schmerzenden Zahn oder an das Gefühl, als er einmal gegen seinen Willen verliebt war. Seine Zunge hat immer den Zahn gefunden, und er hat immer diesen Schmerz gefunden, diese Abwesenheit in der Gestalt der
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