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Idylle der Hyänen

Idylle der Hyänen

Titel: Idylle der Hyänen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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schrie:
    »Was soll ich?«
    Bevor er begriff, was sie tat, packte sie seine Hände, legte sie sich um den Hals und preßte sie an ihren Kehlkopf.
    Er schaute hin und wollte es nicht. Und wollte es.
    Er zog ihren Kopf zu sich herauf und drückte zu.
    Großes Empfinden.
    Das war, worauf er sein Fremdleben lang gewartet hatte. Seit der liebe Gott seinen Großvater Jakob am Heiligabend mit einem Fingerschnipp in die ewigen Jagdgründe katapultiert hatte. Seit ihm klar war, daß er von nirgendwoher kam, ein Schatten ohne Jugend. Nie hatte jemand aus seiner Familie von seiner Vorfamilie erzählt, keine Geschichten am Abendbrottisch, bloß Hetzreden gegen die Grottenolme der Mitwelt. Seine Tischnachbarn – Mutter eins und Mutter zwei und Vater eins und s’ Schwesterherzl – kamen aus dem Nichts. Wie seine Ahnen, die immerhin existiert haben mußten, hing er – redete er sich ein – wie Rotz an Gotts Nasn.
    »Töte mich!«
    Das war, glaubte er, worauf er als Kind hingeschwiegen hatte, wenn die Blinden und Tauben ihn für seinen Eifer, sein Betragen, seine Bügelfalten lobten.
    »Töte mich!«
    Das war, worauf er gewartet hatte, seit er einmal einen Sommer lang wegen zweimal Mangelhaft im Zeugnis in Einzelhaft verbringen und immer neue Fenster und Türrahmen und Heizkörper und Fensterrahmen und Türen und Waschbecken putzen mußte und seine Hände betrachtete und überzeugt war, sie taugten nicht zum Schreiben. Genau wie die Wärterin gesagt hatte, die kurz darauf verschwand und ihr Amt an ihre Nachfolgerin Pia übergab, die wenigstens das Tragen gelber Gummihandschuhe erlaubte.
    »Töte mich!«
    Das war, wonach er sich sehnte, seit er zu diesem Mann geworden war, dessen Existenz sich in der Erfindung geschminkter und gut ausgeleuchteter Scheintoter erschöpfte.
    »Töte mich!«
    Und das war groß.
    Er begann zu summen. So schön, schön war die Zeit.
    Er drückte beide Daumen auf ihren Hals. Ines schlug mit den Beinen um sich, und er stieß zu.
    So schön, schön war die Zeit.
    »Fester?« keuchte er, denn er war außer Atem und hatte es nicht bemerkt.
    »Ja«, sagte sie.
    Er drückte fester zu und mußte aufpassen, nicht aus ihr herauszugleiten. Ihre Wangen wurden dunkler, das konnte er sehen, und je fester er ihren Hals umklammerte, desto mächtiger fühlte er sich. Sie wehrte sich schon nicht mehr, hatte die Augen geschlossen. Er ritt auf ihr, und sein Keuchen erfüllte die Dunkelheit. Unter uns, dachte er und preßte seine Daumen auf ihren Kehlkopf, unter uns die schmierige Erde, die Heimat der Lemminge aus Lehm.
    So schön, schön war die Zeit.
    »Schrei nicht so!« schrie er, obwohl sie nicht schrie.
    »Glaubst du, dein Geschrei weckt wen auf in den Klöstern und Kirchen? Glaubst du, aus den Sakristeien und Tabernakeln kriecht einer raus und erhört dich? Glaubst du, die Stellvertreter deines Gotts wachen auf? Glaubst du, dich hört wer beim Sterben?«
    Er lauschte.
    Die Wellen plätscherten. Grillen zirpten. Auf der nahen Durchgangsstraße war es still.
    Noch einmal stieß er zu. Und Ines ruckte mit dem Kopf.
    »So schön, schön war die Zeit« , summte er ein letztes Mal und schaute in den sternenübersäten Himmel hinauf. »Tritt jemand vors Tor?« flüsterte er. »Stellt jemand sein Können zur Verfügung, um unser Flehen zu erhören? Nö. Nömand. Nörgends.«
    Er senkte den Kopf und explodierte. Sein Bauch schnellte vor und zurück, sein Herz schlug quer durch seine Brust, seine Hände schleuderten den Kopf, den sie festhielten, wie den einer Puppe herum, durch seine Beine jagten Stromstöße.
    Aber Sebastian Flies schrie nicht.
    Ines’ Kopf war nach hinten gefallen und hatte sich zur Seite gedreht. An ihrem Hals bemerkte er eine Einbuchtung an der Stelle ihres Kehlkopfs, Wundmale und Blut. Sie atmete nicht mehr.
    Er hatte sie getötet.
    Er hatte sie sechzig Kilometer aus der Stadt in ihr Heimatdorf gefahren, um sie zu erwürgen.
    Töte mich! hatte sie gesagt. Wirklich? Er wußte es nicht mehr.
    Dann fiel ihm auf, daß er vollkommen ruhig dasaß. Er saß auf dem Leichnam der Frau, die er entjungfert hatte.
    Wieder legte er den Kopf in den Nacken und betrachtete das Sternengewimmel. Hatte er nicht geschrien? Und sie?
    Er erinnerte sich, daß es geklopft hatte. Er hatte geöffnet, ohne zu fragen, wer da sei, und sie hatte gesagt: Fahr mich nach Hause. Nach Hause. Sofort. Elf Uhr gestern nacht.
    Und dann?
    Den Tag hatten sie im Dorf verbracht, heimlich, sie dirigierte ihn durch die Straßen. Das Dorf war

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