Idylle der Hyänen
versprochen gehabt; aber dann hatte er nicht mehr daran gedacht.
»Entschuldige«, sagte er.
»Vergiß nicht, den Wecker zu stellen.«
»Nein.«
»Gute Nacht.«
»Ich komm sofort.« Er saß mit dem Rücken zur Tür seines Arbeitszimmers und hob die Hand. Hella schloß die Tür.
Neben den Kopien lag sein Diktiergerät. Zwei Kassetten hatte Sebastian Flies vollgesprochen, als sie mit ihm durch das Dorf gefahren und dann fast eine Stunde am Seeufer geblieben waren, wo er ihnen die Tat schilderte. Der macht sich wichtig, dachte Ohnmus; eine andere Erklärung hielt er für ausgeschlossen. Auf einem der Fotoabzüge war die tote Frau mit dem roten Cape zu sehen, auf einem anderen die tote Frau im grünen Kleid. Und die einzige Verbindung zwischen beiden Fällen stellte der Mann aus dem Ost-West-Hotel dar, und der hatte sich eine aberwitzige Variante des Leugnens zurechtgelegt. Ohnmus betrachtete das Blatt mit den Namen, Pfeilen, Uhrzeiten und Ortsbezeichnungen, dann das Foto von Sebastian Flies am Seeufer. Er drehte sich zur Tür um und schaute sie lange an, erfüllt von einem tiefen Verständnis für seine Frau, die Einblicke in seinen aus oftmals unbegreiflichen menschlichen Handlungsweisen bestehenden Alltag so konsequent wie möglich vermied.
Dann mußte er an den überraschenden Ausbruch seines Kollegen während der Besprechung denken.
Es war ihm peinlich, aber es passierte ihm immer wieder. Nach dem Ende der Geschichte blieb er eine Weile liegen, hörte dem gleichmäßigen Atmen seiner Tochter zu und schlief ein. Manchmal schlief er drei Stunden durch.
Diesmal wachte er nach einer Viertelstunde auf, gab Isabel einen Kuß auf die Wange, strich, nachdem er behutsam aus ihrer Umarmung geglitten war, die Bettdecke glatt, legte ihren Arm um den Stoffbären und verließ auf Zehenspitzen das Kinderzimmer. Als Nadine noch lebte, war sie jeden Abend zu Isabel ins Bett gekrochen und hatte ihr eine Geschichte vorgelesen oder sich mit ihr über die Ereignisse des Tages unterhalten.
Nach Nadines Ermordung hatte er die Rolle des Traumbegleiters übernommen. Am Anfang hatte er so lange ausgeharrt, bis Isabel eingeschlafen war, bevor er anfing zu weinen.
Inzwischen weinten sie manchmal beide und hielten sich fest. Er bebte fast vor Haß, und sie fragte ihn leise, warum sein Bauch so heftig auf und ab hüpfte, und er antwortete, er habe heute wieder keine Zeit zum Essen gehabt, deswegen mache sein Magen so einen Aufstand. Dann streichelte sie ihm das Gesicht und ermahnte ihn, sich sofort ein Brot zu schmieren, wenn sie eingeschlafen sei. Und wenn sie eingeschlafen war, ging er in die Küche und trank ein Bier auf ex.
Er stand in der Küche und trank die Flasche leer, stellte sie in den Kasten und unterdrückte ein Rülpsen. Seine Tochter hatte ihm von Luisa und dem neuen Freund von Luisas Mutter erzählt, und er hatte nicht zugehört; sie hatte ihm den Termin für einen Ausflug in den Naturpark genannt, den Paula, ihr neuer Freund und die beiden Mädchen unternehmen wollten, und er hatte ihn schon wieder vergessen; sie hatte ihm ein Lied vorgesummt, und er war eingeschlafen.
Jetzt war er wach. Und innerhalb der nächsten fünf Stunden würde er nicht wieder einschlafen können. Er fluchte, weil er vergessen hatte, sich nach einem Fernseher zu erkundigen. Er fluchte, weil er keine Zeit für Isabel hatte, obwohl Ferien waren und er sie jeden Tag zu Paula bringen mußte.
Er fluchte, weil er nicht verstand, wieso das Mädchen den Namen ihres Entführers nicht sagen wollte, der ihre Mama erhängt und die Leiche in einem Schrank abgelegt hatte.
Er fluchte, weil der Mörder, der die Nonne erwürgt hatte, vermutlich mit Totschlag davonkommen würde und sie den Mann nicht zwingen durften, die Wahrheit zu gestehen.
Er fluchte, weil er zu fluchen begonnen hatte und keinen Grund sah, damit aufzuhören.
An der offenen Balkontür fluchte er auf die Clemensstraße hinaus.
Plötzlich hörte er eine schlaftrunkene Stimme hinter sich.
»Papa, darf ich morgen zu Lukas und Moritz?« In ihrem knielangen weißen Nachthemd, auf dem ein fetter grüner Frosch prangte, stand Isabel im Zimmer, mit zerzausten Haaren, die kreuz und quer vor ihrem Gesicht hingen, ihren Bären im Arm.
Das Nudel-Desaster neigte sich dem Ende zu, und Emanuel Feldkirch schloß die Litanei seiner Ermahnungen mit dem Satz: »Und jetzt wird der Salat gerecht verteilt!« Darin waren sich seine Kinder sofort einig: Ihre Mutter bekam den gesamten restlichen
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