Ifenfeuer: Allgäu-Krimi (German Edition)
Hütte und bat, von großem Hunger geplagt, um etwas Essen. Die Sennen, die reichsten der ganzen Gegend, waren hartherzig und geizig. Sie gaben dem alten Mann unter Lachen eine Schale voll Mist und wiesen ihm die Tür. Nur der Sennerbub hatte Mitleid und reichte ihm, was er eigentlich für sich aufgespart hatte. Der alte Mann wandte sich wortlos ab und stieg über die Hänge aufwärts. Kaum hatte er jedoch die Hütte ein Stück weit hinter sich gelassen, war ein furchtbares Dröhnen, Krachen und Ächzen zu hören. Ein großes Feuer brach aus, der Boden bebte, tat sich auf und verschlang die ganze fruchtbare Alpe, die Hütte, die Sennen und ihr Vieh. Nur der Sennerbub blieb verschont und berichtete im Tal, was sich zugetragen hatte.
Statt der grünen Alpe war fortan eine steinerne Wüste zu sehen, wie wir sie heute noch kennen. Sie erhielt den Namen Gottesacker, gleichbedeutend mit Friedhof. Viele Menschen hier im Tal glauben bis heute, dass es der Herrgott selbst war, der um Essen gebeten und dann die Alpe und ihre hartherzigen Menschen ins Verderben geschickt hatte.«
Aniser wandte sich um. »So ist also die Gegend um Schneiderküren zum wiederholten Male von Erscheinungen heimgesucht worden, die sich mit Ratio nicht erklären lassen. Wenn dort oben die Zahl der Wanderer zunimmt, wird von der Mystik des Ortes und seiner Ruhe einiges auf der Strecke bleiben.«
Der alte Pfarrer humpelte zu seinem Stuhl zurück und setzte sich. Dieser Gehfehler, dachte Berger, hatte sich beim letzten Mal nicht so deutlich gezeigt. Aniser, während seiner Erzählung wie abwesend, fand zur Wirklichkeit zurück, und Leben kam wieder in seine Augen. Er sah seine beiden Besucher an. Welche Lehren mochten sie aus dieser Sage ziehen können? Er wusste, dass es auf dem Gottesackerplateau Höhlen und Löcher gab, die sich als Versteck oder auch als Falle gut eigneten. Und es waren dort oben bestimmt noch mehr Dinge geschehen, die nicht bis ins Tal gedrungen waren.
Wanner räusperte sich. »Na ja, jetzt haben Sie uns eine Sage erzählt, die über das Entstehen des Plateaus berichtet. Was aber könnten wir daraus für Schlüsse ziehen?« Er war ratlos. Sage blieb Sage, aber warum hatte Aniser gerade diese gewählt?
Auf Anisers Gesicht war eine Spur von Ungeduld zu bemerken. Kapierten die beiden noch immer nicht?
»Es ist doch nicht so schwer zu begreifen«, sagte er dann. »In der Gegend von Schneiderküren hatte es immer schon Ereignisse gegeben, die als mystisch bezeichnet werden können. Wir wissen von dem Jahrtausende alten Doppelmord, vom Untergang der Alpe, jetzt vom Mord an Brugger und von Erscheinungen, die dort oben umgehen: Raben, Auerhähne, Gämsen, zwei in alte Kleidung gehüllte Menschen. Das alles zeigt doch klar, dass es zwischenmenschliche Beziehungen waren, die zum Verderben beigetragen haben. Neid, Hartherzigkeit, Gier! Unser Herrgott hat sich selten in die Angelegenheiten der Menschen eingemischt. Er wartet auf deren Einsicht und behält sich die Abrechnung für den Jüngsten Tag vor. Haben Sie jetzt verstanden?«
Feuer glühte in seinen schwarzen Augen, mit denen er Wanner anschaute. »Sie müssen sehen, dass die irdische Gerichtsbarkeit vollzogen wird. Tun Sie es bald!«
Paul Wanner war es langsam unheimlich geworden. Er verständigte sich durch einen Blick mit seinem Kollegen, dann sagte er: »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, liegt das Motiv für den Mord an Brugger ausschließlich im Bereich einer möglicherweise gescheiterten Beziehung. Wir sollen also Ihrer Meinung nach eine Frau finden, die Grund genug hatte, auf Brugger eifersüchtig zu sein, ihn vielleicht hasste und den mystischen Ort als Tatort wählte.«
Aniser schüttelte schnell den Kopf. »Ich habe nichts von einer Frau gesagt.«
»Aber das ist meine Interpretation Ihrer Ausführungen. Gehen wir weiter zum Hölloch. Dort stürzte eine Frau zu Tode. Wir müssen also, quasi als Gegenstück dazu, einen Mann suchen, für den das eben Gesagte ebenfalls zutrifft. Stimmen Sie mit mir überein?«
Wanner wollte den Pfarrer in die Enge treiben, doch dieser ließ sich nicht festnageln.
»Was ich Ihnen erzählt habe, sind Gleichnisse, aus denen man Schlüsse ziehen kann. Das aber ist Ihre und«, er schaute zu Berger hinüber, »Ihre Aufgabe. Der Herrgott gebe Ihnen die Weisheit zum richtigen Handeln und lasse Sie Ihre Arbeit im Sinne der irdischen Gerechtigkeit vollenden. Jetzt aber bitte ich Sie zu gehen, ich habe noch zu tun.«
Wanner und Berger erhoben
Weitere Kostenlose Bücher