Ihr letzter Tanz
bin sicher, dass Dr. Long für seinen normalen Unterricht herkommt.“
„Das Hotel hat das Treffen auf Mittwoch verschoben“, erklärte Ella gutgelaunt. „Du möchtest bitte trotzdem noch zurückrufen. Und Dr. Long ist erst für Viertel nach drei eingetragen.“
„Dann also um zwei“, sagte Shannon.
„Danke, bis morgen.“
Ihr neuer Schüler verließ das Studio, Shannon sah ihm nach.
An der Tür begegnete er Jane, die soeben vom Zahnarzt zurückkam. „Wer zum Teufel war denn das?“ wollte sie wissen, als sie bei Shannon ankam.
„Dougs Bruder.“
„Dougs Bruder? Wow! Jetzt weiß ich, wie Doug in ein paar Jahren aussehen wird. Klar, die Augen … so was! Wer unterrichtet ihn?“
„Ich“, antwortete Shannon.
„Oh. Und? Willst du ihn behalten?“ Sie gab sich Mühe, unbeschwert zu klingen.
Shannon zögerte kurz. „Ja.“
Sam tanzte an ihnen vorbei, um allein einen Wiener Walzer zu üben. „Hey“, rief er Jane zu. „Du hast doch schon den anderen Bruder.“
Jane warf ihm einen stechenden Blick zu. „Oh ja. Und ich habe auch den fiesen alten Mr. Clinton mit seinen achtundneunzig Jahren, der bei jedem Tanzschritt ein bisschen mehr verwest.“ Sie sah Shannon an. „Ich dachte, du nimmst keine neuen Schüler.“
„Tue ich auch nicht. Aber du weißt ja, wie das läuft.“
„Du bist die Managerin“, sagte Jane. „Du musst ihn nicht behalten.“
„Ich weiß. Aber diese fünfundvierzig Minuten kamen mir wie zehn Stunden vor. Dieser Mann ist eine Herausforderung, die ich mir nicht entgehen lassen möchte. Ach“, fügte sie rasch an und deutete zur Eingangstür, „übrigens, dein Oldtimer ist gerade eingetroffen.“
Jane sah zu ihrem weißhaarigen, lächelnden Schüler.
Ben war bereits zu ihm gegangen, um ihn mit Handschlag zu begrüßen. Das war im Studio so üblich: Jeder Angestellte begrüßte die Schüler, wenn er nicht gerade anderweitig beschäftigt war. Alle Schüler wurden gleich freundlich und höflich behandelt, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter, Hautfarbe oder Können.
Das Studio war praktisch eine Miniaturausgabe der Vereinten Nationen.
Hinzu kam, dass sie sich in South Florida befanden, dem Tor nach Lateinamerika. Das hieß, dass Umarmungen hier an der Tagesordnung waren. Man umarmte sich, wenn man sich begegnete und wenn man sich verabschiedete. Man küsste sich auf die Wangen. Es war freundlich und warmherzig, und für die Menschen, die hier aufgewachsen waren, war es ein ganz normales Verhalten.
Mr. Clinton war eigentlich ein netter Kerl, der von allen immer herzlich begrüßt wurde. Er war weder fies, noch verweste er. Er war nur ein wenig schwerhörig, so dass es manchmal so schien, als würde er andere anbrüllen.
Jane seufzte. „Ja, da ist mein Oldtimer.“
„Vergiss nicht, er bringt dir immer Kaffee mit“, sagte Shannon.
„Ich weiß, er ist ein Goldstück.“
Jane sah sie einen Moment lang an – sagen musste sie nichts, da sie beide wussten, was sie in diesem Augenblick dachte.
Der alte Mann war ein Goldstück, aber er war nun mal kein Quinn O’Casey.
„Du bist der Boss“, sagte Jane und setzte ein Lächeln auf, dann wandte sie sich ab. „Mr. Clinton! Schön, Sie zu sehen. Was sollte es heute noch mal sein? Eine Samba? Fühlen Sie sich dafür auch fit genug?“
„Darauf können Sie wetten, Janie“, versicherte er ihr mit dem breitesten Grinsen. „Ich habe den besten Schrittmacher, den es gibt. Also, legen Sie ruhig los.“
Shannon beobachtete die beiden und musste lächeln. Nein, Mr. Clinton war ganz bestimmt kein Quinn O’Casey. Aber andererseits …
Was wollte Quinn wirklich hier im Studio?
Auf einmal lief ihr ohne erkennbaren Grund eine Gänsehaut über den Rücken.
4. KAPITEL
Q uinn fand, dass der Strand am Nachmittag gar nicht so übel war. Es ging recht ruhig zu, während an den Wochenenden regelmäßig die Hölle los war. Dann waren die Straßen, die zum Strand führten, so überlastet, dass es für Stunden weder vor noch zurück ging.
Doch jetzt am Nachmittag …
Obwohl es auf den Herbst zuging, waren die Temperaturen noch hoch, doch die kühlende Brise, die vom Ozean an Land wehte, sorgte dafür, dass es nicht zu warm wurde. Auf dem Weg vom Studio, das zwischen Alton Road und Washington lag, kam er an alten Häusern im Art déco-Stil vorüber, an denen man kaum etwas verändert hatte, so dass sie noch immer viel von ihrem ursprünglichen Charme bewahrt hatten. Auch einige Geschäfte befanden sich zwischen den kleinen
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