Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
auf – als betrete Jonas Holly bestimmte Zimmer überhaupt nicht mehr, bewohnte jedoch die anderen, ohne sich um seine Umgebung Gedanken zu machen. Rice führte keine penible Durchsuchung durch; sie hielt das nicht für angemessen und glaubte auch nicht, dass Reynolds das von ihr gewollt hatte. Mit achtsamer Hand und geübtem Blick nahm sie die Räume im Obergeschoss in Augenschein.
Doch sie brauchte keinen geübten Blick, um überall Lucy Holly zu entdecken. Ihr Make-up-Täschchen stand noch immer auf der Kommode im Schlafzimmer, ihre Kleider hingen noch im Schrank. Ein Frauenbademantel hing hinter der Tür, ihre Turnschuhe standen unter dem Bett – ein Paar abgenutzte rosafarbene Converse All Stars.
Es war, als sei Lucy Holly bloß kurz einkaufen gegangen und würde jeden Moment zurück sein, mit Pasta fürs Abendessen und vielleicht einer Flasche Rotwein, wie die, die Jonas für sie aufgemacht hatte.
Das Ganze war ein wenig beklemmend, aber vielleicht wollte Jonas es ja so. Vielleicht stellte er sich gern vor, dass seine Frau so nahe war, dass er sie fast berühren konnte. Dass sie eines Abends ins Schlafzimmer kommen, die Bettdecke zurück schlagen und neben ihm ins Bett steigen könnte, als sei sie niemals fort gewesen.
Vielleicht war das ja so, wenn man jemanden verlor, den man geliebt hatte.
Rice wusste es nicht. Sie hatte noch nie jemanden so geliebt. Das wurde ihr zum ersten Mal klar, als sie am Fußende des Ehebetts der Hollys stand, und sie fühlte, wie das Restbedauern, sich von Eric getrennt zu haben, sich wie ein sanfter Rülpser aus ihr löste.
Als sie die alte, eingetrocknete Wimperntusche auf der Kommode anstarrte, überkam Rice eine Woge der Traurigkeit um Jonas willen und noch eine um ihrer selbst willen.
Unten stapelten sich Wäsche und Post – hauptsächlich Wurfsendungen – auf dem Küchentisch, während das Spülbecken sauber war und auf der Geschirrablage nur ein einzelner Becher und eine Schale mit einem Löffel standen. Eine halbvolle Flasche spanischer Wein kippte ohne Korken.
Reynolds öffnete die Küchenschränke, die zwar Vorräte, aber kaum Essbares enthielten. Gewürze, Mehl, Reis und Erbsen, alte Soßenflaschen mit klebrigen Deckeln und Tomatendosen.
Das Wohnzimmer war dämmrig, und alles war von einem grauen Staubfilm bedeckt, als wäre es ein Fernsehbild. Eine rot karierte Decke, die zusammengefaltet über der Armlehne des Ledersofas lag, war das Einzige, das einen Hauch von Wärme vermittelte.
Reynolds’ Blick wanderte über die bunte Mischung im Bücherregal. Stephen King, Philip K. Dick, Sportbiografien und psychologische Fachbücher. Letztere erkannte er als Universitätsliteratur und fragte sich, wer das Fach wohl studiert hatte. Dann zog er eine Ausgabe von Das Unbehagen in der Kultur aus dem Regal, fand jedoch keinerlei Hinweis darin. Auf dem Kaminsims stand eine Uhr, die um 7 Uhr 39 stehen geblieben war, eine blaue Vase ohne Blumen darin und ein Foto von Lucy Holly in einem Silberrahmen. Sie kniete neben einem frisch umgegrabenen Blumenbeet und lächelte ins Sonnenlicht hinauf, eine Schaufel in der behandschuhten Hand.
Und lag nicht am Fuß der Treppe, wo ihr blasiges Blut aus dem Mund quoll.
Reynolds begegnete seinem eigenen Blick durch den Staubschleier des Spiegels über dem Sims hindurch. So verschwommen und mit dem Licht vom Fenster her hinter ihm sah sein Haar toll aus.
Er seufzte tief. Wäre nur Steven Lamb verschwunden, so hätte er mit den Straßensperren und der sofortigen Bitte um zusätzliche Leute vielleicht noch gewartet. Mitten in einer Krise bestand immer die Möglichkeit, dass Kinder – okay, Jungs –, dass Jungs ihren eigenen Anteil an all der Action erfanden. Dass sie vorgaben, in einen Brunnen gestürzt, auf See verschollen oder gekidnappt worden zu sein …
Aber da Jonas Holly allem Anschein nach ebenfalls verschwunden war, wurde das Ganze nur noch ernster. Entweder waren beide entführt worden, was bizarr erschien, oder Jonas hatte den Jungen gekidnappt und – so die logische Schlussfolgerung – die anderen Kinder auch.
Was bizarr erschien.
Wieder seufzte Reynolds und starrte düster in den Spiegel. Über ihm knarrten die Dielen. Rice durchsuchte Jonas’ Schlafzimmer.
Der Anrufbeantworter blinkte, und Reynolds drückte auf die Abspieltaste. Er hörte eine Roboterstimme, die Jonas mitteilte, er hätte eine Urlaubsreise nach Florida gewonnen und bräuchte nur folgende Nummer anzurufen, um seinen Preis in Empfang zu
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