Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
sie nicht?«
» Gretchen ist tot, das weißt du doch.«
» Tot? Unser Gretchen?«
» Schon lange. Schon sehr, sehr lange.«
Der Alte ließ das Gitter los und sackte in sich zusammen. Die eben spontan aufgebrachte Kraft hatte ihn schlagartig wieder verlassen, und in seinen trüben Augen sammelten sich Tränen.
» Oh ja, sie haben sie geholt«, sagte er keuchend. » Diese Schweine. Und ich konnte nichts tun. Oh, Gretchen! Bitte, bitte vergib mir! Es ist alles meine Schuld.«
Er begann so heftig zu schluchzen, dass er husten musste. Sein Sohn hielt ihn und wischte das Sputum von den schmalen, ausgetrockneten Lippen.
» Bitte gehen Sie«, sagte Emil Volz. » Das ist zu viel für ihn. Warten Sie unten im Weinprobierzimmer auf mich. Gleich rechts neben der Eingangstür. Vielleicht kann ja ich einige Ihrer Fragen beantworten.«
62
Das Weinprobierzimmer des Gretchenhofs war wohl noch zu Zeiten des Großvaters eingerichtet worden: Eiche rustikal, dicke Stoffpolster, Balkendecke mit Holzkassetten, farbige Bleiglasfenster mit Heiligenmotiven. Jagdtrophäen hingen an den Wänden– vornehmlich die gehörnten Schädel von Rehböcken, aber auch ein Vierzehnender–, und auf einem Sims in der Ecke stand ein ausgestopfter Fuchs. Ein Hängeregal war gefüllt mit alten dickbauchigen Weingläsern mit ebenfalls mundgeblasenen Hohlstielen in den Farben Gold, Braun und Tannengrün. Sie wirkten, als wären sie schon lange vor dem Bau des alten Hauses im Besitz der Familie gewesen.
Da in der Mitte der langen Tafel aus polierter Eiche ein flacher Zinnaschenbecher stand, erlaubten sich Inga Jäger und Gebert eine Zigarette anzuzünden, während sie darauf warteten, dass Emil Volz zu ihnen herunterkam.
Gebert starrte finster ins Leere, und Inga Jäger war nicht sicher, ob es der Zustand des alten Mannes war, der ihn so beschäftigte, oder ihr Gespräch im Auto.
Sie wollte ihn gerade fragen, als die Tür geöffnet wurde und Emil Volz hereintrat.
Er hielt eine braune Weinflasche in der einen und eine Flasche Mineralwasser in der anderen Hand.
» Sie entschuldigen hoffentlich«, sagte er, während er die Flaschen auf den Tisch stellte und Gläser aus dem Hängeschrank nahm. » Mein Vater ist in einem äußerst schlechten Zustand. Er wird vermutlich nicht mehr lange leben.«
» Das tut mir leid«, sagte Inga Jäger.
» Das muss es nicht«, erwiderte Emil Volz. » Es wird für ihn eine Erlösung sein. Je weiter die Demenz fortschreitet, umso mehr ist er in einer lange vergangenen Zeit gefangen. Einer schlimmen Zeit. Einer Zeit, in der schreckliche Dinge passiert sind. Und es scheint, als würde er sich nur noch an die erinnern. Immer und immer wieder.«
» Gretchen?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.
Emil Volz nickte und schenkte eine trübe Flüssigkeit aus der Weinflasche in die Gläser.
» Oh, für mich bitte keinen Alkohol«, sagte Inga Jäger.
» Keine Sorge, das ist frisch gekelterter Traubenmost. Der hat noch keinen Alkohol.«
Er reichte Inga Jäger ein Glas, und sie nippte daran. Ein wohliger Laut drang ihr unbeabsichtigt über die Lippen, und sie schloss genussvoll die Augen.
» Das ist… das ist… köstlich«, sagte sie begeistert und nahm gleich noch einen Schluck. Der Most schmeckte besser als jeder Traubensaft, den sie je getrunken hatte.
Das Lob zauberte Emil Volz ein herzliches Lächeln auf das ansonsten von Sorgenfalten zerfurchte Gesicht.
» Nicht wahr?«, sagte er. » Es ist fast schon schade, dass man letzten Endes Wein daraus machen muss, um davon halbwegs leben zu können.«
» Och, ich hätte gegen einen guten Wein nichts einzuwenden«, sagte Gebert mit skeptischem Blick auf das ihm angebotene Glas. » Ich meine, wenn wir schon einmal hier sind.«
» Ich glaube, da lässt sich was machen.« Emil Volz öffnete einen ebenfalls mit Eiche verkleideten Kühlschrank, den man auf den ersten Blick für einen Teil des Wandschranks hätte halten können. » Weiß oder rot?«
» Sie haben den Roten auch im Kühlschrank?«, fragte Gebert erschüttert.
» Er nimmt über das Glas ganz schnell die Temperatur Ihrer Hand auf«, erklärte Emil Volz.
» Hm.« Gebert zögerte. Er klang nicht sehr überzeugt. » Dann doch lieber weiß.«
» Ihnen kann man wohl nichts vormachen«, meinte der Winzer mit einem Schmunzeln. » Aber im Ernst, die Ansage, dass man Rotwein bei Zimmertemperatur trinken soll, stammt noch aus einer Zeit ohne Heizungen und Klimaanlagen– also als die durchschnittliche
Weitere Kostenlose Bücher