Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
schmiedeeisernen Lettern das Wort GRETCHENHOF .
Inga Jäger war überrascht, wie still es hier war.
In Hamburg ist es nie wirklich still, wusste sie, und auch in Wiesbaden eher selten, und wenn dann nur tief in der Nacht. Aber jetzt war es gerade einmal früher Vormittag, und außer dem Zwitschern einiger Vögel war nicht ein Laut zu hören.
Vielleicht sollte sie es sich noch einmal überlegen und mit Tanya hier heraus ziehen. Mit dem Auto würde sie, da die Staatsanwaltschaft nah an einer Autobahnauffahrt lag, morgens nicht länger als eine halbe Stunde bis zur Arbeit brauchen– immer noch nur halb so lang wie in Hamburg und eigentlich auch nicht sehr viel länger als jetzt innerhalb Wiesbadens–, und Tanya könnte in einer wohlbehüteten Gegend aufwachsen… wo Kinder noch ohne große Gefahr frei auf der Straße spielen konnten und Feld und Wald ganz nah vor der Haustür lagen.
Sie schob den Gedanken an einen zweiten Umzug weit nach hinten. Erst einmal musste sie die Ermittlungen im Gegenwind ihres Vorgesetzten überstehen und außerdem abwarten, inwieweit das gerade beschädigte Verhältnis zu Gebert wieder zu heilen war, ehe sie daran denken konnte, sich wirklich fest und für lange in diesen Breitengraden anzusiedeln.
» Herzlich willkommen!« Eine freundliche Männerstimme riss sie aus ihren Überlegungen.
Durch das offene Tor kam ihnen ein hochgewachsener Mann Mitte dreißig entgegen. Er war brünett und trug einen blauen Arbeitsanzug und Gummistiefel. Seinem Lächeln nach zu urteilen, hielt er sie für potentielle Weinkunden.
» Sie sind… ?« Inga Jäger ließ die Frage offen zur Beantwortung im Raum stehen.
» Achim Volz«, sagte er und schüttelte beiden herzlich die Hand. » Sie entschuldigen bitte meinen Aufzug, aber wir sind gerade mitten in der Ernte und beim Keltern.«
Gebert holte seinen Ausweis heraus und stellte sie vor.
» Wir sind auf der Suche nach Ihrem Vater«, sagte er dann.
» Meinem Vater?«
» Clemens Volz.«
Das freundliche Lächeln war mit einem Mal wie weggewischt. » Sie meinen nicht meinen Vater, Sie meinen meinen Großvater«, sagte er kühl. » Was wollen Sie von ihm?«
» Wir haben ein paar Fragen an ihn«, antwortete Inga Jäger. » Wenn Sie uns bitte sagen könnten, wo wir ihn finden.«
» Mein Großvater ist ein schwer kranker Mann«, sagte Achim Volz, und jetzt war sein Ton sogar ruppig. » Lassen Sie ihn in Ruhe!«
» Ich fürchte, das können wir nicht«, sagte Inga Jäger. » Und Sie wissen doch noch gar nicht, worum es geht.«
» Das spielt keine Rolle!«, sagte der junge Winzer lautstark und wandte sich zum Gehen.
» Was ist denn hier los?« Ein zweiter Mann kam hinzu. Er war genauso gekleidet wie Achim Volz, und die beiden sahen einander verwirrend ähnlich. Nur dass der Neuankömmling etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre älter und das volle Haar von silbrigen Strähnen durchzogen war.
» Nichts«, blaffte Achim Volz grantig. » Die Herrschaften wollten gerade wieder gehen.«
» Wollten wir nicht«, korrigierte Gebert, und seine Stimme klang jetzt mindestens ebenso ungehalten wie die des jungen Winzers. » Wir wollen mit Clemens Volz sprechen.«
» Clemens Volz ist mein Vater«, sagte der ältere der beiden. » Worum geht es denn, bitte schön?«
» Das möchten wir lieber mit ihm selbst besprechen«, sagte Inga Jäger.
» Natürlich«, lenkte der Winzer ein. » Bitte kommen Sie doch herein. Mein Name ist Emil Volz. Und entschuldigen Sie bitte die Unfreundlichkeit meines Sohnes. Er steht seinem Großvater sehr nah und möchte ihn nur beschützen.«
» Wovor denn beschützen?«, fragte Gebert argwöhnisch.
» Ach, das ist doch nur so eine Redensart«, sagte Emil Volz. » Bitte, treten Sie ein, und seien Sie herzlich willkommen.«
Sie betraten das Weingut.
Der Blick, mit dem Achim Volz ihnen folgte, war, wie Inga Jäger aus den Augenwinkeln heraus beobachtete, voller Feindseligkeit.
61
Rüdesheim am Rhein. Der Gretchenhof.
Schon unten im Eingang des riesigen Fachwerkhauses roch es streng nach Desinfektionsmittel und Medizin, Salbei und Rosmarin. So als würden sie diesem Geruch folgen, führte Emil Volz sie über zwei schmale Treppen hinauf in das ausgebaute Dachgeschoss. Trotz des Alters des Gebäudes war hier alles modern und reinigungsfreundlich renoviert und erinnerte bereits auf dem Flur an eine Krankenstation.
Von hinter der einzigen Tür, die von dem Flur aus abging, ertönte leise Musik.
Inga Jäger erkannte das Lied. Es war
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