Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
und in seinem jugendlichen Leichtsinn hat er sich seine Pistole geschnappt, ist zum Haus der Weiß hinübergerannt und hat ihr gedroht, sie zu erschießen, wenn sie es noch einmal wagt, sich Gretchen zu nähern.«
» Mutig«, sagte Inga Jäger anerkennend. » Aber auf lange Sicht wohl nicht sehr klug.« Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie die Geschichte weitergehen würde.
» Nein«, sagte Emil Volz. » Wahrlich nicht sehr klug. Gerade einmal drei Tage später wurde mein Vater völlig unerwartet mitten aus seinem Urlaub an die Front der heftig tobenden Schlacht in den Ardennen bestellt, und am Tag darauf holte ein Trupp SS -Soldaten Gretchen ab. Else Weiß hatte sie, unter dem Vorwand, mit einem jüdischen Jungen befreundet zu sein, für geistig gestört erklärt und eine Überweisung auf den Eichberg ausgestellt… wo sie dann einige Monate später erschossen wurde.«
» Das tut mir sehr leid«, sagte Inga Jäger.
» Danke. Ich weiß das zu schätzen.«
» Wer war der jüdische Junge?«, fragte Gebert.
» Frank Strauss hieß er«, antwortete Volz. » Zwei Tage nachdem sie Gretchen geholt hatten, sind seine Eltern mit ihm von hier geflüchtet. Aber wohin es sie dann verschlagen hat und ob sie überhaupt überlebt haben, kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
Gebert machte sich dennoch eine Notiz.
» Was wurde aus Else Weiß, nachdem der Krieg vorüber und die Nazis entmachtet waren?«, fragte Inga Jäger. » Hat Ihr Vater sich an ihr wegen Gretchens Tod gerächt?«
» Wahrscheinlich hätte er das getan«, räumte Emil Volz ein. » Aber von seiner Abberufung in die Ardennen bis zum Kriegsende 1945 hatte er keinen Heimaturlaub mehr. Er wurde von einer Front zur nächsten geschickt, so als wollte irgendwer dafür sorgen, dass er auf dem Schlachtfeld blieb. Und als er dann endlich nach Hause kam… nun ja, da war schon alles erledigt.«
» Inwiefern?«
» Kaum war die Kapitulation Deutschlands ausgerufen, da rotteten sich schon einige Rüdesheimer Bürger zusammen, um mit Else Weiß abzurechnen. Wie Sie sich vielleicht denken können, war Gretchen bei Weitem nicht die Einzige, die sie auf den Eichberg geschickt oder geschändet hatte.
Doch die Hexe war ihnen zuvorgekommen.
Sie hatte ihre beiden Freundinnen mit Zyankalikapseln vergiftet und sich selbst anschließend aufgehängt. Aber sie hat den Selbstmordversuch überlebt– allerdings vom Genick abwärts querschnittsgelähmt.
Sie ist weit über neunzig Jahre alt geworden, ohne sich je wieder bewegen zu können. Mein Vater und die anderen waren der Ansicht, das sei Rache genug. Man sagt, sie sei in der Einsamkeit ihres Holzhäuschens wahnsinnig geworden.
Als sie schließlich starb, fand man vom Keller bis hoch zum Dachboden Hunderte von Ölzweigen, die ihr Verwandte von Pilgerfahrten nach Rom und Lourdes mitgebracht hatten, und an jeder Wand in jedem Zimmer des Häuschens hing ein Kruzifix. Insgesamt mehr als dreißig Stück.«
» So als hätte sie unter furchtbaren Angstzuständen gelitten«, schloss Inga Jäger daraus. » Angst vor den Dämonen ihrer Vergangenheit und den Seelen ihrer Opfer.«
» Eine Angst, die sie sich redlich verdient hat«, sagte Emil Volz im Brustton der Überzeugung.
Inga Jäger nickte. Sie hatte volles Verständnis für seine Gefühle. Dennoch kam sie nicht darum herum, ihren Job zu machen.
» Was mich zu der Frage bringt«, sagte sie, » was Sie am Abend und in der Nacht des 22. September getan haben.«
Er schaute sie überrascht an. » Das ist der Todestag Gretchens.«
» Ich weiß«, sagte sie.
» Weshalb fragen Sie das?«, wollte er wissen.
» Beantworten Sie bitte meine Frage«, sagte sie. » Wo waren Sie in jener Nacht?«
» Ich war hier wie jedes Jahr an diesem Datum«, erwiderte er. » Zusammen mit meinem Vater und meinem Sohn. Wir begehen an diesem Tag immer eine Gedenkfeier anlässlich der Ermordung Gretchens.«
» Sie sind bereit, das unter Eid auszusagen?«
» Ja natürlich«, antwortete er, aber dann nahm sein Gesicht einen argwöhnischen Ausdruck an. » Noch mal: Warum fragen Sie das?«
» Wie lange hat die Gedenkfeier gedauert, Herr Volz?«, hakte Gebert nach.
» Sie weichen mir aus!«, stellte der Winzer fest. » Weshalb genau sind Sie hier? Beschuldigen Sie meinen Vater oder auch mich irgendeiner Straftat?«
» Wir ermitteln in einem Mordfall«, offenbarte Inga Jäger. » Genauer gesagt in einer Serie von Morden.«
» Einer Serie? Und wie kommen Sie darauf, dass mein Vater etwas darüber wissen
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