Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Ich hab für dich ’nen Blumentopf bestellt von den Comedian Harmonists, einer ehemals Berliner und dann international berühmt gewordenen A-Cappella -Gesangsgruppe aus der Zeit vor dem letzten Krieg. Da drei ihrer Mitglieder jüdischer Abstammung gewesen waren, hatten Hitler und sein Propagandaminister Joseph Goebbels sie nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit einem Auftrittsverbot belegt und die Gruppe damit zur Auflösung gezwungen.
Dem Kratzen und Rauschen nach zu urteilen, stammte die Aufnahme, die Inga Jäger jetzt hörte, von einer alten Schelllackplatte. Es war eigentlich ein ausgesprochen fröhliches Lied, aber Emil Volz’ Gesicht verfinsterte sich zu einer traurigen Miene, ehe er die Türklinke nach unten drückte und öffnete.
Er blieb in dem Türspalt stehen und steckte den Kopf hinein.
» Papa, hier ist Besuch für dich.«
Inga Jäger vernahm keine Antwort, aber Emil Volz öffnete die Tür nun ganz und bat sie mit einer Geste einzutreten.
Das Bild, das sich Inga Jäger bot, als sie langsam in das Zimmer ging, war herzzerreißend.
Unter dem hohen Sprossenfenster stand ein einzelnes, großes Bett. Es war ein auf allen vier Seiten vergittertes Krankenhausbett aus weiß lackiertem Stahlrohr, von der Art, die man in alle möglichen Richtungen verstellen kann. Die Laken und das Bettzeug waren blütenweiß.
Mitten darin lag, auf einem Berg von drei Kissen, das, was von Clemens Volz noch übrig war: ein ausgezehrter alter Mann mit krebsfleckiger Haut, tief eingefallenen trüben Augen und offen stehendem zahnlosem Mund, von dessen linkem Winkel Speichel auf das oberste der Kissen sickerte.
Er gab seltsam gutturale Laute von sich, und Inga Jäger brauchte einige Augenblicke, ehe sie begriff, dass er das alte Lied mitsang, das aus einer modernen Anlage auf einer Kommode an der Wand erklang.
Er war an zahlreiche Schläuche und medizinische Geräte angeschlossen, und in durchsichtigen Plastiksäcken an der einen Seite des Bettes sammelten sich Kot und Urin.
Auf einem Beistelltisch stand, neben einer Reihe von Pillendosen und Nierenschalen, das etwa A4-große Schwarzweißporträt eines Mädchens mit strengem Mittelscheitel und langen geflochtenen Zöpfen. Obwohl die Fotografie bestimmt über sechzig Jahre alt war, konnte man noch immer erkennen, wie hübsch das Mädchen gewesen war.
Emil ging zu seinem Vater und wischte ihm mit medizinischer Gaze den Speichel weg.
Aber erst als er mit einer Fernbedienung die Musik abstellte, schien der Alte aus seinem tranceähnlichen Zustand aufzutauchen und ihn überhaupt wahrzunehmen.
» Du hast Besuch, Papa«, sagte Emil Volz noch einmal.
Inga Jäger fand es ungemein rührend, wie zärtlich der rustikale Mittsechziger mit seinem Vater umging und sprach.
Der Alte schaute sich verwirrt um, schien aber weder sie noch Gebert wahrzunehmen.
» Er ist so gut wie blind«, sagte Emil Volz. » Er kann Sie nicht sehen, aber er kann Sie hören. Ich kann aber nicht versprechen, dass er Sie auch versteht. Seine Demenz ist weit fortgeschritten.«
» Guten Tag, Herr Volz«, sagte Inga Jäger betont klar und deutlich, und das hagere Gesicht wandte sich ihr zu– mit einer Langsamkeit, die ihr verriet, dass ihn selbst diese kleine Bewegung anstrengte.
» Wer ist da?«, fragte er schwach.
» Mein Name ist Inga Jäger«, antwortete sie. » Ich bin Staatsanwältin. Ich habe ein paar Fragen an Sie.«
Clemens Volz verzog irritiert das Gesicht und wandte sich seinem Sohn zu. » Wer ist das? Ich kann sie nicht verstehen. Sie soll lauter sprechen.«
» Ich möchte gerne mit Ihnen über Margarete sprechen«, sagte Inga Jäger lauter, und sofort schwenkte sein trüber Blick zu dem alten Foto auf dem Beistelltisch. » Ihre Schwester.«
» Gretchen?«, fragte er– jetzt plötzlich und überraschenderweise um einiges kraftvoller. Seine Stimme schnarrte. » Haben Sie mein Gretchen gefunden? Wo ist sie?«
Er versuchte, sich im Bett aufzurichten und es zu verlassen. Die niedrigen Gitter an den Seiten hinderten ihn daran. Er packte sie mit seinen knochigen Fingern und rüttelte an ihnen– wie ein Insasse in einer Gefängniszelle.
» Ich muss zu ihr!«, rief er krächzend, und es klang verzweifelt. » Schnell! Die Nazi-Hexe, dieses homosexuelle Mannweib, hat es auf sie abgesehen. Sie darf sie unter keinen Umständen in ihre schmutzigen Finger kriegen!«
» Sie haben Gretchen nicht gefunden, Papa«, sprach Emil Volz beruhigend auf ihn ein.
Er verharrte irritiert. » Haben
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