Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Zimmertemperatur noch bei siebzehn bis neunzehn Grad Celsius lag.«
» Trotzdem lieber weiß.«
» Herb, halbtrocken oder mild?«
» Herb ist gut«, antwortete Gebert, und Inga Jäger konnte ein vorfreudiges Funkeln in seinen Augen ausmachen.
» Herb?«, fragte sie.
» So sagt man hier für trocken«, erklärte Gebert.
» Da habe ich etwas Schönes für Sie«, sagte Emil Volz und brachte eine Flasche hervor. » Eine 1999er Rüdesheimer Drachenstein Riesling Spätlese trocken.«
» Das klingt verführerisch«, gestand Gebert, und Volz öffnete die Flasche.
Inga Jäger sah auf dem Rückenetikett das Foto von Gretchen, das sie oben im Krankenzimmer gesehen hatten. Aber sie wartete, bis Volz eingeschenkt und Gebert mit seligem Gesichtsausdruck gekostet hatte, ehe sie darauf zeigte und sagte: » Die Zeit, in der Ihr Vater gefangen ist, das ist ihre Zeit, nicht wahr?«
Emil Volz’ Lächeln verschwand, und er nickte traurig. » Es hat sich schon immer alles irgendwie um sie gedreht«, sagte er. » Seitdem ich denken kann. Sogar das Weingut hat er nach ihr benannt. Aber in den letzten Monaten wurde es ganz extrem. Sie haben das Lied gehört?«
» Ich hab für dich ’nen Blumentopf bestellt von den Comedian Harmonists?«, fragte Inga Jäger.
Er nickte. » Es war wohl Gretchens Lieblingslied. Seitdem die Augen meines Vaters zu schwach geworden sind, um sich ihr Bild anzuschauen, hört er es von morgens bis abends– und nicht selten auch die ganze Nacht über.«
» Erzählen Sie uns von Gretchen«, bat Inga Jäger.
» Das ist eine traurige Geschichte«, warnte Emil Volz leise und nippte an seinem Traubenmost.
» Ich weiß«, sagte Inga Jäger einfühlsam. » Wir kennen das schlimme Ende bereits. Aber wir wissen nicht, wie es begonnen hat. Wer ist die Nazi-Hexe, von der Ihr Vater oben gesprochen hat?«
» Else Weiß«, antwortete Volz. » Die damalige Rüdesheimer Gemeindekrankenschwester.«
Else Weiß.
Inga Jäger erinnerte sich an den Namen– aus den Eichberg-Unterlagen, die sie über Gretchen gefunden hatten.
» Sie war eine › Zugezogene‹«, fuhr Emil Volz fort, » und hat mit zwei anderen Frauen, ihren Geliebten, wie sich alsbald herausstellte, in einem Holzhäuschen am Ortsrand, gar nicht weit von hier, einen ausschweifenden und recht fragwürdigen Lebenswandel geführt.«
» Fragwürdig?«
» Ja. Wilde Partys, manche sagten sogar Orgien, und auch von schwarzen Messen war die Rede.«
» Echte schwarze Messen?«
» Eigentlich wohl eher Scharaden«, meinte Emil Volz, » bei denen es sehr viel weniger um wirklich satanische und okkulte Rituale als vielmehr um besonders freizügigen Sex ging.«
» Das muss in einem kleinen Ort wie Rüdesheim doch für einige Aufregung unter den Gemeindemitgliedern gesorgt haben«, mutmaßte Gebert.
Emil Volz nickte. » Es war schon beinahe so weit, dass der Gemeinderat sie der Stadt verweisen wollte. Doch dann kamen die Nazis an die Macht… und Else Weiß wurde direkt eines der ersten Parteimitglieder hier in Rüdesheim.«
Eine durchaus vertraute Systematik, wusste Inga Jäger. Besonders in der Anfangszeit hatten die Nazis ihre Macht aufgebaut, indem sie Außenseiter und vom Establishment Ausgestoßene rekrutiert und für ihre Sache eingespannt hatten.
Menschen, die einen Groll gegen die damals bestehende Ordnung gehegt hatten und nicht nur bereit, sondern geradezu begierig darauf waren, sich an ihr zu rächen.
Emil Volz berichtete mit grimmigem Gesicht weiter, ganz so, als würde er sich erinnern, obwohl er damals noch gar nicht geboren gewesen war: » Ihre Position als Gemeindekrankenschwester gab ihr mit einem Mal die Autorität, Menschen nach Gutdünken als psychisch gestört oder krank zu Doktor Wilhelm Schneider in die Psychiatrie auf dem Eichberg einzuweisen, und sie hat diese Macht aufs Extremste zu ihrem persönlichen Vorteil ausgenutzt. Finanziell… aber auch auf andere Art.«
» Was meinen Sie?«
» Nun ja, als Gretchen ins Alter kam, wie man damals die Pubertät nannte, hatte Else Weiß ein besonderes Auge auf sie geworfen und wollte sie zu einem ihrer Spielzeuge machen. Unter dem Vorwand, sie hätte ein hübsches Kleidchen für sie, das sie ihr gerne schenken wolle, lockte sie sie in ihr Haus… und wollte sich dann an ihr vergehen. Aber Gretchen gelang es, sich zu befreien und zu fliehen. Sie hat alles ihrem älteren Bruder, meinem Vater, anvertraut. Der war damals gerade einmal neunzehn und auf Urlaub zurück von der Besetzung Dänemarks,
Weitere Kostenlose Bücher