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Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)

Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Hagen
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passiert sein konnte, schnappte sich schnell ihre Aktentasche und ihren Mantel von der Rückbank und beeilte sich, nach oben zu gehen.
    Sie hatte sehr lange und ausgiebig mit der Entscheidung gehadert, Tanya aus ihrer gewohnten Umgebung in Hamburg herauszureißen; ihr zuzumuten, nach gerade einmal zwei Jahren schon das erste Mal die Schule wechseln und all ihre Klassenkameraden und auch die Freunde aus der Nachbarschaft zurücklassen zu müssen. Doch letztendlich hatte Inga sich dafür entschieden in der festen Überzeugung, mittelfristig sei ein kompletter Neuanfang gerade in ihrem jungen Alter die beste Medizin für Tanyas bis tief ins Mark hinein verwundete Seele. Kurzfristig aber litt die Kleine ganz furchtbar, und Inga hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen deswegen.
    Oben angekommen, hatte Inga kaum die Tür aufgeschlossen, als ihr auch schon mit ausgesprochen ernstem Gesicht Vikki Limpach entgegenkam, Tanyas Tagesmutter.
    » Gut, dass Sie da sind, Frau Jäger«, sagte die stämmige Mitfünfzigerin leise und nahm, nachdem sie sich die Hände an der Kittelschürze abgewischt hatte, Inga dienstbeflissen den Mantel ab, um ihn sorgfältig erst auf einen Bügel und dann an die Garderobe neben dem Eingang zu hängen. » Ich dringe gerade überhaupt nicht zu ihr durch, obwohl ich, wie ich glaube, wirklich alles versucht habe. Sogar Bestechung.«
    » Was ist denn passiert?«, fragte Inga besorgt. » Etwas Schlimmes? Hat sie sich etwas getan? Ist sie krank?«
    » Nein, nein. Ihr geht es gut. Aber sie hat sich in der Schule geprügelt«, sagte Vikki Limpach mit einem besorgten Seufzen. » Mit dem Klassen-Bully.«
    » Mit einem Jungen?«, fragte Inga erstaunt. Tanya gehörte von ihrer ganzen Veranlagung her nicht zu den Kindern, die sich prügelten. » Also hat sie sich doch verletzt?«
    » Sich nicht, aber ihn«, antwortete Frau Limpach. » Sie hat ihm sogar einen Zahn ausgeschlagen. Zum Glück nur einen Milchzahn, aber ihre Lehrerin hat mich trotzdem angerufen und mich gebeten, sie abzuholen, weil sie sie einfach nicht wieder beruhigen konnte und sonst den Unterricht hätte ausfallen lassen müssen.«
    » Oje«, sagte Inga. » Wissen Sie denn schon, warum sie sich geprügelt hat?«
    » Das habe ich sie natürlich auch gefragt. Aber sie wollte es mir nicht sagen.«
    » Wieso haben Sie mich nicht einfach angerufen? Ich hätte sie doch auch abholen können.«
    » Wo Sie sich doch gerade selbst in die neue Umgebung und den neuen Job einfinden müssen?« Vikki Limpach schüttelte energisch den praktisch kurz gelockten Kopf. » Sie haben mich angestellt, damit ich Sie unterstütze. Was für eine Unterstützung wäre ich, wenn ich Sie immer gleich mit allem behellige, ohne zunächst selbst einmal zu versuchen, das Problem zu lösen?«
    Inga lächelte dankbar. » In Ordnung. Sie haben recht, Frau Limpach. Ich übernehme dann ab hier. Vielen Dank für alles. Ich weiß das sehr zu schätzen.«
    » Nichts zu danken«, erwiderte sie und schlüpfte in ihre Daunenjacke. » Wir sehen uns dann morgen.«
    » Ja, bis morgen«, sagte Inga und reichte ihr die Hand. » Kommen Sie gut nach Hause.«
    Sie wartete, bis Vikki Limpach nach draußen gewuselt war und die Tür hinter sich zugezogen hatte, ehe sie ihre Handtasche abstellte und an Tanyas Zimmertür klopfte.
    Tanya antwortete nicht.
    Inga wartete ein paar Sekunden, ehe sie noch einmal klopfte– leise, unaufdringlich.
    » Darf ich reinkommen?«, fragte sie mit liebevoller Stimme durch das Holz hindurch.
    Noch einige weitere Momente lang war nichts zu hören. Dann aber: ein niedergeschlagenes, schwaches » Okay«.
    Inga öffnete die Tür und trat langsam in das Zimmer ihrer Tochter. Wie der Rest der Wohnung war es noch weit davon entfernt, fertig eingerichtet oder wohnlich oder gar mit Leben gefüllt zu sein. Aber hier spürte Inga ganz deutlich, dass der Grund dafür war, dass Tanya noch nicht akzeptiert hatte, dass das jetzt ihr neues und permanentes Zuhause war.
    Das Mädchen lag auf dem Bett, mit dem Gesicht zur Wand. Mehr als es wirklich zu hören, sah Inga ihr Seufzen an der tief einatmenden Bewegung ihres kleinen, zierlichen Oberkörpers. Das lange dunkelblonde Haar, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, war zerzaust– wohl noch von dem Kampf in der Schule. Tanya sah dabei so schrecklich verloren aus, dass Inga fast aufgeschrien hätte; so sehr drohten ihr der Schmerz und die Erkenntnis der Unfähigkeit, die Dinge einfach ungeschehen machen zu können, von innen heraus den

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