Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Rheingauer sofort erfahren und auch in sechsundzwanzig Jahren nicht vergessen. Aber so…« Er zuckte mit den breiten Schultern.
» Aber es ist doch im Rheingau passiert«, wandte Inga Jäger ein.
» Das spielt keine Rolle«, erklärte Willy Andres. » Es ist keinem der ihren passiert, also könnte es genauso gut ein Mord in Essen oder in Frankreich oder Amerika gewesen sein, von dem man eben mal in der BILD -Zeitung liest, ihn dann aber wieder schnell vergisst. Was anderes wäre es gewesen, wenn man die Leiche in einem der Dörfer gefunden hätte; aber irgendwo da oben am Waldrand? Da gehen nur Winzer hin, Jäger und Verrückte.«
» Verrückte?«
» Ja, wissen Sie das denn nicht?«
» Was denn?«
» Na, der Eichberg ist im Rheingau doch das Synonym für die Klapse schlechthin«, antwortete Willy Andres, und Inga Jäger sah, dass das auch für Gebert neu war.
» Ja«, sprach der pensionierte Kommissar weiter, » wegen der psychiatrischen Klinik dort. Sie war schon 1815 eine Irrenanstalt. Statt › Du bist doch verrückt‹ oder › irre‹ sagt der Rheingauer: › Du gehörst auf den Eichberg!‹«
Inga Jäger und Gebert schauten einander völlig entgeistert an, und Gebert hätte sich beinahe an seinem letzten Rest Bier verschluckt. Sie hatten gerade beide denselben Gedanken gehabt. Inga Jäger sprach ihn aus:
» Die Psychiatrie!«
Anna, Sophia & Eva
31
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Eichberg.
Inga Jäger fühlte sich, als wäre sie aus der Wirklichkeit hinaus- und mitten in ein verwunschenes und düsteres Zauberreich hineingetreten. Das weitläufige und labyrinthartige Gelände der Psychiatrie Eichberg lag so verborgen am Rand des dichten Waldes über der Weinlage gleichen Namens, dass man es von der Feldstraße aus gar nicht erkennen konnte.
Es war, als wollte man die Anstalt hinter und zwischen all den riesigen uralten Bäumen vor den Augen der Welt verstecken.
Obwohl Gebert an ihrer Seite den kurvigen und relativ steilen Hangpfad hinaufging und sie beide bewaffnet waren, fühlte sie sich unbehaglich– noch sehr viel unbehaglicher als bei dem Besuch der JVA .
Von der Vogelperspektive der Google-Karte her wusste sie, dass die Klinik mit ihren zahlreichen Gebäuden und Wegen fast die Größe eines eigenen kleinen Dorfes hatte, von hier vom Boden aus aber sah man das nicht. Die Eichen, Buchen und Eiben standen dichter als in einem Park, und man erblickte dazwischen selten mehr als eines der alten Häuser auf einmal.
Es fühlte sich so an, als würde hinter jedem einzelnen dieser vielen Bäume irgendetwas Furchtbares lauern, etwas Monströses… Bedrohliches. Selbst Gebert hatte unbewusst die Hand nah bei seiner Dienstpistole.
Die Direktion der Klinik lag in einem mittelalterlichen Wachtturm ähnlichen Bau im unteren Drittel des Hanges. Die Beobachtung, dass selbst dort die Fenster vergittert waren, steigerte das Unbehagen nur.
Sie stiegen die geländerlose Sandsteintreppe hinauf und klingelten. Inga Jäger hatte sich durch Rike Wiedemann, ihre Sekretärin, anmelden lassen, und schon nach wenigen Augenblicken wurde ihnen die schwere Eichentür geöffnet.
Professor Götz war ein auf den ersten Blick unscheinbarer Mann mittlerer Größe. Sein graues Haar und der penibel gepflegte Kinnbart waren voll, der weiße Kittel makellos sauber und so frisch gestärkt, dass er teilweise vom Körper abstand, als wäre er aus festem Material gefertigt. Das einzig Bemerkenswerte an dem Leiter der Klinik waren seine dunklen Augen. Sie waren hellwach und bohrend. Die Notwendigkeit, Menschen einschätzen und ihren Geisteszustand zu erforschen und beurteilen zu können, war ihnen zur zweiten Natur geworden.
» Bitte kommen Sie herein«, sagte er, nachdem sie einander gegrüßt und vorgestellt hatten, und führte sie im Innern des alten Gebäudes die glänzend gebohnerte Treppe hinauf in den oberen Stock, wo sein Büro lag, das beinahe die ganze Etage einnahm.
Durch die Eichentäfelung an Wänden und Decke wirkte der Raum trotz seiner Weite und Höhe eher düster und bedrückend– wie der Saal eines Jagdschlosses aus dem vorletzten Jahrhundert. In Regalen und Wandschränken standen Unmengen an Fachbüchern und Journalen, und außer dem geräumigen Chippendale-Schreibtisch und dem Ledersessel dahinter gab es nur eine Sitzgruppe, die vor dem Kamin aufgebaut war, in dem jetzt ein kleines Feuer brannte, das kaum Wärme spendete.
Selbst das Knistern des brennenden Holzes hörte sich falsch an. Statt
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