Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
eine Armee von Monstern, die sich selbst die Herrenrasse nannten.
Inga Jäger konnte sich des Eindruckes nicht erwehren, dass das gesamte Anwesen und der Grund und Boden, auf dem es stand, sich noch heute zu schämen schienen für das, was vor rund siebzig Jahren hier geschehen war.
Zu Recht, wie ein völlig irrationaler Teil in ihr fand, den sie jedoch augenblicklich wieder zur Räson rief.
Wie, wenn sie selbst schon ein Stück lebloses Land für die Verbrechen verachtete, die darauf begangen worden waren, konnte sie jemanden jagen, der sich an den Nachfahren dessen rächte, der verantwortlich war für diese Verbrechen?
Für einen kurzen Moment konnte sie durch den dichten Regenschleier hindurch abgemagerte Menschen in grobleinenen Anstaltskitteln zwischen den Bäumen schleichen sehen– schwarze, nach unten gerichtete Dreiecke auf ihren Schultern, auf die Unterarme tätowierte Ziffern. Dazwischen Ärzte, Helfer und Helferinnen… mit Pistolen in den Händen, Schlagstöcken und Spritzen… und Männer von der SS … schwarze Uniformen mit den Runen-Insignien und den Totenschädeln… wo die Insassen ihr Dreieck trugen, trugen sie ihre rote Armbinde mit dem Hakenkreuz.
Natürlich war es nur ihr besonderes Vorstellungsvermögen, das Inga Jäger diese Menschen und ihre Peiniger sehen ließ, und sie wusste das– doch das machte den Eindruck nicht weniger erschreckend.
Drei Minuten später saßen sie und Kommissar Gebert im Büro von Professor Götz.
» Haben Sie schon einmal von der Aktion T4 gehört?«, fragte sie den Klinikleiter ohne Umschweife.
Professor Götz stutzte, doch dann nickte er, legte die Fingerspitzen seiner beiden Hände gegeneinander und sagte: » Die Nazis im Dritten Reich nannten es die Vernichtung lebensunwerten Lebens oder auch Euthanasie – Sterbehilfe.«
» Damit beschönigten sie die Ermordung von mindestens hunderttausend psychisch und körperlich beeinträchtigten Menschen durch NS -Ärzte und deren Pflegekräfte«, sagte Inga Jäger. » Was wissen Sie noch darüber?«
» Bereits 1933 erließen Adolf Hitler und seine Schergen das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, durch das nicht weniger als vierhunderttausend Menschen mit angeblich vererbbaren Krankheiten zwangssterilisiert wurden. Dieses Gesetz wurde 1935 erweitert, um bei ärztlich festgestellten Erbkrankheiten auch Schwangerschaften abzubrechen. Dem folgte 1939 die Kinder-Euthanasie– die Ermordung Tausender psychisch und physisch beeinträchtigter Kinder in Pflege- und Heilanstalten; und bald darauf auch die Euthanasie Erwachsener.«
» Woher wissen Sie das alles, Professor Götz?«
» Sie kennen die Antwort, Frau Jäger.«
» Sie sind also darüber informiert, dass diese Verbrechen an der Menschlichkeit auch hier in der psychiatrischen Klinik Eichberg stattgefunden haben?«
» Wir sprechen hier im Allgemeinen nicht darüber«, erwiderte er. » Die Anstalt heute ist nicht verantwortlich für die Grausamkeiten, die hier früher einmal begangen wurden.«
» Weil es sich schlecht aufs Geschäft auswirken würde, wenn die Öffentlichkeit davon wüsste«, war Gebert überzeugt.
» Weil kaum ein Ort oder Unternehmen in Deutschland je überhaupt wieder auf die Füße gekommen wäre, wenn wir die Vergangenheit nicht hinter uns gelassen hätten«, widersprach Götz. » Oder wollen Sie Volkswagen dafür verantwortlich machen, dass die Firma von Hitler ins Leben gerufen wurde, um den Käfer und den Kübel zu bauen, oder Hugo Boss für das Fertigen von SS -Uniformen? Aber was hat das alles mit Ihren Ermittlungen zu tun?«
» Wir müssen inzwischen davon ausgehen, dass das Motiv für die Morde Rache ist«, antwortete Inga Jäger auf seine letzte Frage, zumal sie auf die vorletzte Frage auch keine zufriedenstellende Antwort hatte. » Rache an den Nachkommen des damaligen Klinikleiters, Wilhelm Schneider. Wir müssen die Patientenunterlagen aus jener Zeit einsehen.«
» Das geht nicht!«, sagte Professor Götz.
» Das wollen wir doch mal sehen«, sagte Gebert gereizt. » Zur Not haben wir in weniger als einer halben Stunde einen Richterlichen Beschluss.«
» Keine Sorge«, beschwichtigte Inga Jäger, um die Fronten nicht verhärten zu lassen. » Wir werden so diskret vorgehen wie nur irgend möglich.«
» Ich weiß Ihr Angebot sehr zu schätzen«, sagte Professor Götz, » auch wenn ich nicht glaube, dass die Angelegenheit diskret behandelt werden könnte, wenn erst einmal bekannt würde, dass die Morde von heute ihre
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