Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
fragend an.
» Dann wurde diese Maßnahme… Gott, was für ein furchtbar nüchternes Wort für ein solch schreckliches Verbrechen… also, dann wurde diese Maßnahme damals auch zentral dokumentiert«, sagte sie.
Gebert schien immer noch nicht zu verstehen.
Inga Jäger lächelte. » Sie sind kein Bürokrat, mein Lieber. Und das nenne ich im Allgemeinen etwas Gutes. Aber hier hilft uns die Bürokratie weiter, wenn wir Glück haben.«
» Könnten Sie vielleicht endlich zum Punkt kommen?«, fragte Gebert ungeduldig, nahm den letzten Zug an seiner Zigarette und trat sie auf dem Boden aus.
» Es muss Kopien geben«, erklärte Inga Jäger. » Entweder hier im Hessischen Staatsarchiv, im Bundesarchiv in Koblenz oder im Geheimen Staatsarchiv in Berlin.«
Nun klärte sich auch Geberts Miene auf, und er grinste. » Jetzt verstehe ich, warum man Sie in Hamburg Die Jägerin genannt hat.«
Inga Jäger setzte einen verspielten Schmollblick auf. » Wie? Jetzt erst?«
52
Staatsanwaltschaft Wiesbaden.
Gleich am nächsten Morgen wies Inga Jäger ihre Sekretärin Rike Wiedemann an, einen eiligen Antrag an das HMDJ , das Hessische Ministerium der Justiz, zur Einsicht der Akten zu der Aktion T4 in der psychiatrischen Anstalt auf dem Eichberg im Hessischen Staatsarchiv zu stellen. Kaum eine halbe Stunde später betrat Stefan Peiß, der Leitende Staatsanwalt und damit Inga Jägers neuer Chef, ihr Büro, ohne vorher anzuklopfen.
Es war das allererste Mal seit ihrer kleinen Willkommensfeier, dass er sie in ihrem eigenen Büro aufsuchte, statt sie durch einen Anruf seiner Sekretärin zu sich zu bestellen.
» Guten Morgen«, grüßte sie ihn, darauf achtend, ihrem Blick ihre Ungehaltenheit über die Unhöflichkeit, dass er nicht angeklopft hatte, nicht zu deutlich anmerken zu lassen.
Sie war wahrlich keine Duckmäuserin, die alles schluckte, aber sie legte Wert darauf, sich den Status quo innerhalb einer Behörde durch ihre Erfolge zu erarbeiten statt durch Diskussionen über Umgangsformen.
» Guten Morgen«, erwiderte er und ließ sich in den Sessel der Sitzgruppe in der Ecke fallen.
Seine Stimme drückte Gereiztheit aus.
Stefan Peiß war Anfang fünfzig und nicht besonders groß, sogar eher klein geraten, dafür aber auf eine sportliche Art ausgesprochen drahtig. Das silbergraue Haar war schon fast militärisch kurz gehalten. Sein hellgrauer Anzug war konservativ, aber die Brille, die er trug und durch die hindurch er sie jetzt musterte, als wäre er der Wolf und sie die Beute, hatte einen dezent modischen Chic.
Er hielt ein Blatt in die Höhe.
Sie erkannte ihren Antrag.
» Jedwede Korrespondenz mit dem Landesjustizministerium hat zuerst über meinen Tisch zu gehen. Ist das klar?«, fragte er in abgehacktem Tonfall– so als hätte er den Satz und die Frage vorher mehrfach geübt.
Napoleonkomplex, schoss es ihr spontan durch den Kopf. Den hatte er sich im Vorstellungsgespräch und in ihren ersten Arbeitstagen hier in Wiesbaden nicht anmerken lassen.
» Das war mir nicht bekannt«, räumte sie wahrheitsgemäß ein. » Aber in Zukunft weiß ich es.«
Ihr Zugeständnis zauberte ihm ein triumphierendes Grinsen auf die schmalen Lippen.
» Bei mir hat alles seine Ordnung.« Wieder dieser abgehackte Auswendiglern-Tonfall.
Inga Jäger kannte solche Typen wie Peiß zur Genüge– sie sahen das Leben als ewigen Kampf, in dem sie um jeden Preis obsiegen mussten; auch oder vor allem über Menschen, die überhaupt nicht ihre Gegner waren.
Schon während des Studiums lernten sie ihren Machiavelli und ihren Sunzi in- und auswendig, ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, dass Sunzi– falls er überhaupt jemals real existiert hat, was die meisten Historiker von heute anzweifeln– Die Kunst des Krieges geschrieben hat, ohne überhaupt jemals an einem Krieg oder einer Schlacht teilgenommen zu haben, und dass der Adlige, der Machiavelli als Vorbild für Der Fürst gedient hat, Cesare Borgia, ein strategisch und taktisch unfähiger Kriegsherr, ein blutrünstiger Tyrann und vermutlich sogar Brudermörder gewesen war, der bereits im Alter von gerade einmal einunddreißig Jahren zu Tode gekommen war, weil er einen ihm bekannten Hinterhalt ignoriert hatte und dabei erschlagen worden war.
» Wie kommen Sie voran im Fall Reichard?«
» Ich arbeite gerade an einem Zwischenbericht«, antwortete sie.
» Ich erhoffe mir weiterführende Hinweise aus den Archivunterlagen.«
Sie deutete auf den Antrag.
» Sie werden ohne sie
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