Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
den Kaffebecher weit von sich.
» Allem Anschein nach, ja«, bestätigte sie.
» Alten Nazi-Müll nach oben zu schaufeln, ist nie besonders populär«, spekulierte er.
» Aber deswegen eine Untersuchung behindern?«
» Nein, das ist nicht richtig. Da gebe ich Ihnen recht. Also, was sollen wir nun tun, Frau Staatsanwältin? Wie fahren wir fort?«
» Ich gehe auf eigene Faust ins Staatsarchiv«, antwortete sie. Den Entschluss hatte sie schon gleich nach dem Gespräch mit Peiß gefasst.
Gebert starrte sie entgeistert an. » Das ist nicht Ihr Ernst.«
» Ich sehe keine andere Möglichkeit«, sagte sie. » Wir hängen sonst fest. Und ich will verdammt sein, wenn ich diese Morde nicht aufkläre und die, die zu Unrecht im Gefängnis gesessen haben, nicht rehabilitiere.«
Gebert runzelte die Stirn. » Damit begeben Sie sich aber auf ziemlich dünnes Eis, meine Liebe.«
» Ich weiß.«
Er seufzte. » Seien Sie bitte vorsichtig.«
Sie musste lächeln. » Machen Sie sich etwa Sorgen um mich?«
Er lächelte zurück. » Es wäre schade, Sie jetzt, da ich gerade angefangen habe, mich an Sie zu gewöhnen, schon wieder zu verlieren.«
55
Hessisches Hauptstaatsarchiv . Wiesbaden.
Das Land Hessen unterhält drei Staatsarchive– eines in Wiesbaden, eines in Marburg und eines in Darmstadt. Sie sind für verschiedene Regionen zuständig, und das in Wiesbaden ist das Hauptstaatsarchiv, mit der Zuständigkeit für landesweite Dienststellen, vor allem die Ministerien. Es liegt in der Nähe der Biebricher Allee in der Mosbacher Straße und umfasst rund siebzig laufende Kilometer Archivmaterial.
Das Gebäude selbst ist ein eher hässlicher Achtzigerjahre-Bau und in etwa so einladend wie eine Bahnhofstoilette.
Inga Jäger betrat es in Jeans, Kapuzenpulli und ihrer ältesten und an manchen Stellen schon recht abgewetzten Filzjacke.
Sie war extra noch einmal nach Hause gefahren, um sich umzuziehen.
Statt mit ihrem Dienstausweis meldete sie sich mit ihrem normalen Personalausweis bei der Rezeption an und behauptete gegenüber dem Empfangsmitarbeiter, Schriftstellerin zu sein, die an einem Roman über die Aktion T4 arbeite. Als sie merkte, dass der Mann hinterm Tresen mit dem Begriff nichts anzufangen wusste, erklärte sie ihm die historischen Hintergründe.
Er setzte sich an seinen leicht veralteten Rechner und begann, mit zwei Fingern zu tippen. Erst nach mehr als einer Minute war er endlich fündig geworden.
» Abteilung 461«, sagte er. » Nummer 32442.«
Sie notierte sich die Angaben auf ihrem Block.
» Für die Einsicht der Originale«, sagte er, » brauchen Sie eine Begleitung eines unserer Mitarbeiter und damit natürlich einen vorherigen Termin. Die Scans aber können Sie sich in unserer Mediathek am Computer auch ohne Aufsicht ansehen. Sind zum Teil sogar über OCR eingespeist, was auch eine Stichwortsuche möglich macht.«
» Dann natürlich die Scans«, sagte sie mit einem erleichterten Lächeln.
Sie hatte schon befürchtet, meterweise Papierordner durchwühlen zu müssen.
Im Nachhinein ärgerte sie sich darüber, dass sie den offiziellen Dienstweg eingeschlagen und damit für Unstimmigkeiten mit ihrem neuen Vorgesetzten und wahrscheinlich auch beim Ministerium gesorgt hatte.
Jeder einfache Bürger hat das Recht zur Akteneinsicht in den Staatsarchiven. Wäre sie gleich und als Privatperson direkt hierhergekommen, hätte es kein Verbot gegeben… und damit jetzt auch keine Insubordination.
» Wo finde ich die Mediathek?«, fragte sie.
» Hier immer den Hauptgang entlang, nach hinten bis zum Ende«, antwortete der Empfangsmitarbeiter. » Ich lege Ihnen die Daten auf Rechnerplatz drei.«
» Vielen Dank«, sagte sie und ging gerade los, als der Rezeptionist einen verwirrten Laut ausstieß.
» Warten Sie«, sagte er.
Ein ungutes Gefühl beschlich sie.
» Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte sie.
Er runzelte irritiert die Stirn, schüttelte ungläubig den Kopf und ließ seine ungeübten Finger noch einmal in zermürbender Langsamkeit über die Tastatur stolpern.
» Das ist merkwürdig«, murmelte er vor sich hin.
» Was denn?«, fragte sie.
» Die Daten«, sagte er. » Es gibt plötzlich einen Sperrverweis.«
» Einen Sperrverweis?«, fragte sie. » Was bedeutet das?«
» Dass die Daten nur nach vorheriger Genehmigung eingesehen werden dürfen«, erwiderte er. Er war kein Stück weniger verwundert als sie.
» Genehmigung durch wen?«, fragte sie.
Er tippte wieder einige Buchstaben auf der Tastatur
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