Ihr wahrer Name
von Rhea, Paul, erinnern Sie sich?« sagte ich in beruhigendem Tonfall. »Es kommt alles wieder in Ordnung. Wissen Sie, wer auf Sie geschossen hat?« »Ilse«, sagte er keuchend. »Ilse... Bullfin. Rhea. Rhea Bescheid sagen. SS weiß, wo...« »Bullfin?« fragte ich unsicher.
»Nein«, sagte er mit schwacher, aber ungeduldiger Stimme. Wieder verstand ich den Nachnamen nicht richtig. Die Sanitäter gingen den Flur hinunter; jetzt zählte jede Sekunde. Ich begleitete sie bis zur Treppe. Als sie sich auf den Weg nach unten machten, wurde Paul auf der Tragbahre unruhig und versuchte, mich mit dem Blick zu fixieren. »Rhea?«
»Ich sorge dafür, daß sie davon erfährt«, sagte ich. »Sie kümmert sich um Sie.« Welch schwacher Trost für ihn, dachte ich.
39
Paul Radbuka und die Kammer der Geheimnisse
Radbuka verlor das Bewußtsein sofort wieder, nachdem er mein Versprechen gehört hatte. Die Sanitäter sagten mir, ich solle im Haus bleiben, bis die Polizei käme, weil die Beamten mich sicher befragen wollten. Ich sagte lächelnd ja, sicher, kein Problem, und schloß die Vordertür hinter ihnen ab. Möglicherweise würden die Leute von der Polizei schon in wenigen Minuten eintreffen, was bedeutete, daß ich in der Falle saß. Doch für den Fall, daß ich noch ein bißchen Zeit hatte, rannte ich zurück in das sechseckige Zimmer.
Dort zog ich die Handschuhe wieder an und ließ hilflos den Blick über das Chaos auf dem Boden und die Schubladen mit den Papieren schweifen, die halb aus den Ordnern hingen.
Was konnte ich in den wenigen Minuten, die mir blieben, wohl finden?
Mir fiel eine kleinere Karte von Europa über dem Schreibtisch auf, auf der mit dickem schwarzem Filzstift eine Route eingetragen war, die in Prag begann - dort hatte Paul mit zittriger Handschrift »Terezin« notiert - und über Auschwitz an die Südwestküste Englands führte, von wo aus ein breiter Pfeil in Richtung Westen nach Amerika zeigte. Berlin, Wien und Lodz waren alle mit einem Kreis und einem Fragezeichen umgeben. Wahrscheinlich hatte Paul seine mutmaßlichen Geburtsorte und die von ihm rekonstruierte Route durch Europa im Krieg nach England und Amerika markiert. Und?
Schneller, Mädchen, du darfst keine Zeit verlieren. Ich sah den Schlüssel an, der Paul aus der Hand gefallen war, als die Sanitäter ihn auf die Tragbahre gehoben hatten. Er hatte einen groben Bart und konnte zu jedem altmodischen Schloß gehören. Nicht zu einem Aktenschrank, das stand fest, sondern zu einem der Räume, vielleicht zu einem begehbaren Schrank, etwas im Keller oder im zweiten Stock, wo ich noch nicht nachgesehen hatte.
Dieser Raum hier war Pauls Schrein. Gab es darin etwas, das die Eindringlinge nicht gefunden hatten? Kein Schreibtischschloß, dafür war der Schlüssel zu groß. Ich konnte nirgends eine Kammer entdecken. Aber alte Häuser wie dieses hatten immer ans Schlafzimmer angrenzende Kammern oder begehbare Schränke. Ich schob die Vorhänge zurück. Dahinter kamen Fenster zum Vorschein in den drei Wänden, die hier eine Art Erker bildeten. Die Vorhänge reichten über die Fenster hinaus und bedeckten die ganze Seite des Raumes. Ich schlüpfte dahinter und entdeckte die Tür zu einer Kammer. Der Schlüssel paßte genau.
Als ich die Deckenbeleuchtung mittels einer Schnur einschaltete, konnte ich kaum glauben, was ich da sah. Es handelte sich um einen tiefen, schmalen Raum, in dem die Decke genauso hoch war wie im Schlafzimmer - ungefähr drei Meter. Die linke Wand war bis über Kopfhöhe mit Bildern bedeckt, manche davon gerahmt, andere angeklebt.
Einige davon zeigten den Mann, dessen Foto ich im Wohnzimmer gesehen hatte und den ich für Ulf hielt. Die Bilder hier waren schrecklich entstellt, mit dicken roten und schwarzen Hakenkreuzen übermalt, die Augen und Mund verdeckten. Auf manche hatte Paul auch etwas geschrieben: Du siehst nichts, weil deine Augen verdeckt sind - na, wie ist es, wenn jemand das mit dir macht? Du kannst weinen, so lange du willst, du Schwuli, du kommst trotzdem nicht raus hier. Wie fühlst du dich, ganz allein eingesperrt hier drin?Du willst was zu essen ? Dann bettle drum.
Die Worte waren voller Wut, aber auch infantil, das Werk eines Kindes, das glaubt, gegenüber einem schrecklich mächtigen Erwachsenen völlig hilflos zu sein. In dem Interview mit Global TV hatte Paul erzählt, sein Vater habe ihn geschlagen und eingesperrt. Die Sätze auf den Fotos seines Vaters, waren sie es gewesen, die er sich hier drin hatte
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