Ihr wahrer Name
anhören müssen? Egal, wer Paul wirklich war, ob Ulfs Sohn oder ein Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt - wenn man ihn in diesen Raum eingeschlossen hatte, war seine Labilität leicht zu begreifen. Es war nicht ganz klar, ob der Raum dazu diente, Ulf zu bestrafen, oder aber Pauls Zuflucht war. Mitten unter den verschmierten Fotos von Ulf hingen auch Bilder von Rhea. Paul hatte sie aus Zeitschriften und Zeitungen ausgeschnitten und dann offensichtlich in einem Fotolabor professionelle Abzüge davon machen lassen. Mehrere Aufnahmen aus Zeitungen hingen als gerahmte Hochglanzfotografien gleich daneben. Um sie herum hatte er die aus Rheas Praxis gestohlenen Sachen drapiert: ihr Halstuch, ihre Handschuhe, sogar ein paar lavendel-farbene Papiertaschentücher. Die Tasse, die er aus dem Wartezimmer mitgenommen hatte, war ebenfalls darunter, in ihr stand eine verwelkte Rose.
Auch die unterschiedlichsten Dinge über Max hingen an der Wand. Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen, als ich sah, wie viele Informationen Paul über die Familie von Max in einer kurzen Woche gesammelt hatte: eine Reihe von Fotos vom Cellini-Ensemble, Michael Loewenthals Gesicht mit einem Kreis versehen. Programme der Konzerte, die sie in der vergangenen Woche in Chicago gegeben hatten. Fotokopien von Zeitungsartikeln über das Beth Israel Hospital, Äußerungen von Max rot umkringelt. Vielleicht war Paul auf dem Weg hier her gewesen, um Ninshubur in seinen Schrein zu bringen, als der Eindringling auf ihn schoß. Der Ort war so schrecklich, daß ich am liebsten weggelaufen wäre. Obwohl ich zu zittern begann, zwang ich mich weiterzusuchen.
Unter den Fotos von Rhea befand sich auch eine dreizehn mal achtzehn Zentimeter große Aufnahme einer Frau in einem Silberrahmen, die ich nicht kannte. Sie war mittleren Alters, trug ein dunkles Kleid, hatte große dunkle Augen und schwere Brauen sowie einen wehmütig-resigniert lächelnden Mund. Auf einem Zettel, den er am Rahmen angebracht hatte, stand: Meine Retterin in England, aber sie konnte mich nicht genug retten.
An der gegenüberliegenden Wand standen ein kleines Feldbett, Regale mit Lebensmitteldosen und mehreren Taschenlampen sowie ein Vier-Liter-Krug Wasser. Unter dem Feldbett lag eine mit einem schwarzen Band verschlossene Mappe. Ein verschmiertes Foto von Ulf klebte auf der Vorderseite, darunter stand triumphierend: Jetzt hab' ich dich, Einsatzgruppenführer Hoffman. Aus der Ferne hörte ich die Türklingel. Sie riß mich aus meinen Gedanken, weg von den schrecklichen Symbolen von Pauls Besessenheit. Ich nahm das Foto seiner englischen Retterin von der Wand, steckte es in die Mappe und stopfte diese in meine Bluse, hinter den blutverschmierten blauen Hund. Dann rannte ich die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und zur Küchentür hinaus.
Draußen kauerte ich mich ins hohe Gras, dankbar um den Schutz des blutbefleckten Overalls. Die Mappe drückte unangenehm gegen meine Brüste. Ich schlich mich vorsichtig um die Seite des Hauses herum und entdeckte das hintere Ende eines Polizeiwagens. Niemand kümmerte sich um die Seite des Hauses, denn sie erwarteten mich, die Freundin der Familie, im Innern. Immer noch ins Gras geduckt, sah ich mich nach dem Busch um, in den ich meine Dietriche geworfen hatte. Als ich sie wiederhatte, kroch ich vorsichtig zum hinteren Zaun, wo ich den blutverschmierten Overall auszog, das Tuch vom Kopf nahm und die Dietriche in die Gesäßtasche meiner Jeans steckte. Ich fand die losen Bretter, zwischen denen ich kurz zu vor die Katze hatte verschwinden sehen, schob sie auseinander und drückte mich dazwischen hindurch.
Auf dem Weg die Lake View Street hinunter in Richtung meines Wagens blieb ich bei den Schaulustigen stehen, die den Leuten von der Polizei zusahen, wie sie die Tür zu Radbukas Haus gewaltsam öffneten. Ich gab ein mißbilligendes Geräusch von mir, denn ich hätte ihnen zeigen können, wie es viel eleganter gegangen wäre. Außerdem hätten sie einen Posten an der Seite aufstellen sollen, um mitzubekommen, wenn jemand versucht, sich nach hinten aus dem Staub zu machen. Tja, diese Beamten waren eindeutig nicht die besten aus der Chicagoer Truppe. Die Vorderseite meiner Bluse fühlte sich feucht an; als ich nachsah, was los war, stellte ich fest, daß das Blut aus Ninshuburs Fell durch den Stoff des Lakens und den der Bluse gedrungen war. Obwohl ich den blutverschmierten Overall ausgezogen hatte, um nicht aufzufallen, schaute
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