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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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gebraucht, um hier Ordnung zu schaffen.
    Ich überquerte den Flur. Zum Glück waren der Raum dort und der nächste leer, sogar ohne Betten - die Ulfs hatten also nie Übernachtungsgäste gehabt. Pauls Schlafzimmer war ganz hinten links. Es war der einzige Raum im Haus mit modernen Möbeln. Paul hatte sich Mühe gegeben, ihn auf Vordermann zu bringen - vielleicht, um sich innerlich von seinem Vater zu distanzieren? -, und zwar mit besonders strengen Beispielen moderner skandinavischer Innenarchitektur. Ich sah mich genau um, konnte aber Ninshubur nirgends entdecken. Hatte er also das Haus wieder verlassen -um zu Rhea zu gehen? - und den kleinen Plüschhund als Trophäe mitgenommen? Ein Bad trennte Pauls Schlafzimmer von einem sechseckigen Raum, der einen Blick auf den überwucherten Garten hinterm Haus bieten mußte, doch schwere, matt bronzefarbene Vorhänge ließen kein Licht von draußen herein. Als ich die Deckenbeleuchtung einschaltete, bot sich mir ein verblüffender Anblick.
    An einer Wand hing eine große Karte von Europa, in der Nadeln mit roten Köpfen steckten. Als ich nahe genug heran war, um Einzelheiten erkennen zu können, sah ich, daß sie die Konzentrationslager der Nazizeit markierten, sowohl die großen wie Treblinka und Auschwitz als auch andere wie Sobibör und Neuengamme, von denen ich noch nie gehört hatte. Auf einer kleineren Karte gleich daneben befanden sich die Routen der Einsatzgruppen durch Osteuropa. »Einsatzgruppe B« war mit einem Kreis versehen und rot unterstrichen.
    An den anderen Wänden hingen die Zeugnisse des Schreckens, die wir inzwischen alle kennen: Fotos von ausgemergelten Körpern auf Holzbrettern; Kinder mit vor Angst weit aufgerissenen Augen in vollen Zugwaggons; Wachleute mit Stahlhelmen, deren Schäferhunde Menschen hinter Stacheldraht anknurrten; Rauchfahnen aus den Kaminen der Krematorien.
    Ich war so verblüfft über diesen Anblick, daß mir das Schockierendste erst ganz zum Schluß auffiel. Vermutlich nahm mein Gehirn es als Teil dieses grausigen Szenarios wahr, obwohl der Schrecken leider Realität war: Mit dem Gesicht nach unten lag unter den bronzefarbenen Vorhängen Paul Radbuka, eine Blutlache rund um seinen ausgestreckten rechten Arm.
    Ich blieb eine ganze Weile wie erstarrt stehen, bevor ich um die Papiere auf dem Boden herum zu ihm hastete und neben ihm niederkniete. Er lag halb auf der linken Seite und atmete flach. Aus seinem Mund drangen blutige Blasen. Die linke Seite seines Hemds war blutgetränkt. Ich rannte ins Schlafzimmer, um eine Decke und ein Laken zu holen. Inzwischen waren auch meine Knie und meine rechte Hand voller Blut, weil ich seinen Puls gefühlt hatte. Ich legte die Decke über Radbuka und drehte ihn vorsichtig so, daß ich sehen konnte, woher das Blut kam.
    Dann riß ich sein Hemd auf, und Ninshubur, grünlich-braun vom Blut, fiel heraus. Ich preßte einen Streifen des Lakens gegen Radbukas Brust. Es drang immer noch Blut aus seiner Wunde an seiner linken Seite, allerdings langsam, nicht schnell, was bedeutete, daß keine Arterie getroffen war. Als ich den Stoff hob, sah ich ein häßliches Loch in der Nähe des Brustbeins, wo eine Kugel eingedrungen war.
    Ich riß einen weiteren Streifen von dem Laken ab und drückte ihn fest auf die Wunde, dann befestigte ich ihn mit einem langen Stück Stoff. Schließlich wickelte ich Radbuka vom Kopf bis zu den Zehen in die Decke, so daß nur noch das Gesicht zum Atmen herausschaute. »So bleibst du warm, mein Freund, bis die Sanitäter kommen.«
    Das einzige Telefon befand sich meines Wissens im Wohnzimmer. Ich rannte die Treppe hinunter, hinterließ dabei eine Blutspur auf dem Teppich, und wählte 911. »Die Vordertür ist offen«, sagte ich. »Es handelt sich um einen akuten Notfall, eine Schußverletzung in der Brust. Der Mann ist bewußtlos und atmet flach. Die Sanitäter sollten die Treppe zum nördlichen Ende des Flurs nehmen.«
    Ich wartete, bis sie alle Angaben wiederholt hatten, schloß dann die Vordertür auf und rannte wieder hinauf zu Radbuka. Er atmete pfeifend aus und nach Luft schnappend ein. Ich überprüfte den Verband; er schien zu halten. Als ich die Decke zu-rechtzog, spürte ich etwas in seiner Tasche, was vermutlich seine Brieftasche war. Ich holte sie heraus, um festzustellen, ob sich darin irgendein Ausweis befand, der mir seinen Geburtsnamen verraten würde. Kein Führerschein. Eine Geldautomatenkarte des Fort Dearborn Trust auf den Namen Paul Radbuka. Eine MasterCard auf

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