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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretsky
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ihm gegeben hatte, und legte auf. Es handelte sich tatsächlich um die Klinik - vielleicht war sie dortgeblieben, um Papierkram aufzuarbeiten.
    Normalerweise ist Mrs. Coltrain ruhig, ja fast schon majestätisch. In all den Jahren, in denen sie die Leute, die in Lottys Klinik kommen, nun schon empfängt und einweist, habe ich sie nur ein einziges Mal aufgeregt erlebt, und das war damals, als ein wütender Mob in die Klinik eindrang. Als ich sie anrief, klang sie genauso durcheinander wie an jenem Tag vor sechs Jahren.
    »Ach, Ms. Warshawski, danke für Ihren Anruf. Ich... etwas Merkwürdiges ist passiert... ich wußte nicht, was ich tun soll... ich hoffe, Sie... es wäre gut, wenn Sie... ich will Sie ja nicht belästigen, aber... haben Sie Zeit?«
    »Was ist los, Mrs. Coltrain? Hat jemand bei Ihnen eingebrochen?«
    »Es geht um... um etwas von Dr. Herschel. Sie... äh... hat ein Päckchen mit einem Band geschickt.« »Von woher?« fragte ich sofort.
    »Das steht nicht auf dem Päckchen. Es kam mit Federal Express. Ich hab' versucht... es mir anzuhören. Etwas Merkwürdiges ist passiert. Aber ich will Sie nicht belästigen.« »Ich komme zu Ihnen, so schnell ich kann. Es dauert höchstens eine halbe Stunde.« Ich wendete auf der Pershing Road und fuhr wieder zurück auf den Dan Ryan Expressway, wo ich die Strecke und die Zeit, die ich dafür brauchen würde, überschlug. Im Augenblick befand ich mich ungefähr fünfzehn Kilometer südlich der Klinik, aber der Expressway bog vor der Ausfahrt Irving Park Road scharf nach Westen ab. Es war besser, an der Damen Avenue herunter und dann direkt weiter nach Norden zu fahren. Knapp dreizehn Kilometer zur Damen Avenue, das hieß ungefähr zehn Minuten, wenn kein Stau war. Dann auf den Straßen der Stadt ungefähr fünf Kilometer zur Irving Park Road, das waren weitere fünfzehn Minuten.
    Meine Knöchel waren ganz weiß, so fest umklammerte ich das Steuer. Was war los? Was war auf dem Band? War Lotty tot? War Lotty als Geisel genommen worden, und Mrs. Coltrain wollte mir das nicht am Telefon sagen?
    Die Ampel an der Damen Avenue brauchte ewig, bis sie umschaltete. Ganz ruhig, redete ich mir zu. Kein Grund, hier die Pistensau zu spielen. Als ich die Klinik schließlich erreichte, stellte ich den Wagen ziemlich schräg ab und sprang heraus.
    Mrs. Coltrains silberfarbener Eldorado war das einzige Auto auf dem winzigen Parkplatz, den Lotty am nördlichen Ende der Klinik hatte einrichten lassen. Die Straße wirkte verschlafen. Eine Frau mit drei kleinen Kindern und einem großen Wagen voller Wäsche war der einzige Mensch, den ich sah.
    Ich rannte zur Vorderseite und rüttelte an der Tür, doch die war verschlossen. Dann drückte ich auf die Nachtglocke. Erst nach einer ganzen Weile fragte Mrs. Coltrain mit zitternd-ble-cherner Stimme, wer da sei. Nachdem ich meinen Namen gesagt hatte, dauerte es wieder etliche Zeit, bis sie den Summer betätigte.
    Die Lichter im Wartezimmer waren ausgeschaltet, wahrscheinlich um mögliche Patienten abzuhalten. In dem grünlichen Licht, das durch die Glasbausteine drang, kam ich mir vor wie unter Wasser. Mrs. Coltrain war nicht an ihrem Tisch. Das ganze Gebäude wirkte verlassen - absurd, denn sie hatte mich ja gerade erst hereingelassen.
    Nachdem ich laut ihren Namen gerufen hatte, drückte ich die Tür auf, die zu den Praxisräumen führte. »Mrs. Coltrain!« rief ich noch einmal.
    »Ich bin hier hinten, meine Liebe«, hörte ich leise ihre Stimme aus Lottys Büro. Sie sagte nie »meine Liebe« zu mir. Auch nach fünfzehn Jahren bin ich immer noch »Ms. Warshawski«. Ich zog meine Smith & Wesson heraus und rannte den Flur hinunter. Sie saß hinter Lottys Schreibtisch, die Wangen weiß unter dem Puder und dem Rouge. Erst nach ein paar Sekunden nahm ich Ralph wahr. Er hockte in einer Ecke des Raums auf einem von Lottys Patientenstühlen, die Arme an die Stuhllehne gefesselt, ein Stück Klebeband über dem Mund, die grauen Augen schwarz in seinem bleichen Gesicht. Ich versuchte mir immer noch einen Reim auf die Situation zu machen, als er das Gesicht verzog und mit dem Kopf in Richtung Tür deutete. Ich drehte mich mit gezückter Waffe um, doch Bertrand Rossy stand bereits dicht hinter mir. Er packte meine Hand mit der Waffe, und so ging mein Schuß ins Leere. Mit beiden Händen hielt er mein rechtes Handgelenk fest. Ich versetzte ihm einen Tritt gegen das Schienbein. Sein Griff lockerte sich. Ich trat noch einmal zu, diesmal fester, und riß meine

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