Ihr wahrer Name
sich ihre Lebensversicherung unter den Nagel gerissen und dann meinen Vater beschuldigt hätte, könnte ich mir schon vorstellen, wie er reagiert hätte, und er war wirklich ziemlich gutmütig. Aber wenn ich Ihnen keine Fragen stellen darf, wie soll ich dann herausfinden, wer sich die Versicherung vor all den Jahren hat auszahlen lassen?«
Sie preßte erneut die Lippen zusammen, dachte nach und sagte dann: »Haben Sie schon mit Mr. Hoffman, dem Mann von der Versicherung, gesprochen, der jeden Freitagnachmittag hier aufgetaucht ist, bevor Mr. Sommers seinen Lohn für Alkohol oder was auch immer ausgeben konnte, was ein armer Schwarzer seiner Meinung nach tat, statt mit dem Geld Lebensmittel für seine Familie zu kaufen?« »Mr. Hoffman ist tot. Die Agentur hat der Sohn des früheren Inhabers übernommen, der nicht sonderlich viel vom Geschäft zu verstehen scheint. Hat Mr. Hoffman Ihren Mann respektlos behandelt?«
Sie rümpfte die Nase. »Für ihn waren wir keine Menschen, sondern Namen zum Abhaken in dem Buch, das er immer dabeihatte. Er fuhr jedesmal mit seinem schönen großen Mercedes vor, da war's nicht schwer zu erraten, wo unser sauer verdientes Geld landete. Und ob er ehrlich war oder nicht, konnten wir auch nicht feststellen.« »Sie glauben also jetzt, daß er Sie betrogen hat?«
»Wie sonst wollen Sie sich das hier erklären?« Sie schlug mit der flachen Hand auf die Papiere auf dem Tisch, immer noch, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »Halten Sie mich etwa für taub, stumm und blind? Ich weiß, wie die Versicherungen in diesem Land uns Schwarze über den Tisch ziehen. Ich habe von der Gesellschaft unten im Süden gelesen, die den Schwarzen mehr Geld abgeknöpft hat, als ihre ganze Versicherung wert war.« »Ist Ihnen das auch passiert?«
»Nein. Aber wir haben gezahlt. Jeden Freitag. Alles für nichts und wieder nichts.«
»Wenn Sie den Anspruch 1991 nicht geltend gemacht haben und auch nicht glauben, daß es Ihr Mann selbst getan hat, wer käme dann in Frage?« wollte ich wissen.
Sie schüttelte den Kopf. Dabei wanderte ihr Blick unwillkürlich zu der Wand mit den Fotos.
Ich holte Luft. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber ihr Sohn war einer der Begünstigten der Versicherung.«
Ihr Blick durchbohrte mich. »Mein Sohn ist tot. Seinetwegen haben wir den Versicherungsbetrag erhöht, damit er nach unserer Beerdigung noch ein bißchen Geld für sich hätte. Unser Sohn hat unter Muskelschwund gelitten. Und falls Sie jetzt denken, na ja, schön, dann haben sie sich die Versicherung eben auszahlen lassen, um seine Arztrechnungen begleichen zu können, dann darf ich Ihnen sagen, Miss, Mr. Sommers hat vier Jahre lang jeden Tag zwei Schichten gearbeitet, um Geld für diese Rechnungen zu haben. Und ich hab' meine Stelle aufgeben müssen, damit ich mich um meinen Sohn kümmern konnte, als es so schlimm geworden ist, daß er nicht mehr gehen konnte. Als er dann gestorben ist, habe ich auch zwei Schichten gearbeitet, um das Geld für die Rechnungen zu verdienen, in einem Pflegeheim, als Helferin. Und falls Sie vorhaben, in meinem Privatleben rumzuschnüffeln - die Information können Sie völlig gratis haben: Es war das Grand Crossing Eider Care Home. Aber wühlen Sie ruhig in meinem Leben herum. Vielleicht bin ich ja Alkoholikerin. Das könnten Sie zum Beispiel die Leute in der Kirche fragen, wo ich Christin geworden bin und wo mein Mann fünfundvierzig Jahre lang Diakon war. Oder möglicherweise hat Mr. Sommers gespielt und so mein ganzes Haushaltsgeld durchgebracht. So wollen Sie doch meinen Ruf ruinieren, oder?«
Ich erwiderte ihren Blick. »Dann darf ich Ihnen also keine Fragen über die Versicherung stellen? Und Ihnen fällt auch niemand ein, der sie sich hat auszahlen lassen. Sie haben keine Neffen und Nichten außer Mr. Isaiah Sommers?«
Wieder wanderte ihr Blick zur Wand. Einer plötzlichen Eingebung folgend, fragte ich sie, wer der andere Junge auf dem Foto mit Alderman Durham und ihrem Sohn sei.
»Das ist mein Neffe Colby. Nein, Sie und die Polizei werden ihm nichts anhängen und die Empower-Youth-Energy-Organisation von Alderman Durham auch nicht. Alderman Durham ist meiner Familie und dem ganzen Viertel hier immer ein guter Freund gewesen. Seine Gruppe sorgt dafür, daß die Jungs was Ordentliches mit ihrer Zeit und Energie anfangen.«
Eine Bemerkung über die Gerüchte, daß Mitglieder von EYE Wahlkampfgelder durchaus auch mit Muskelkraft eintrieben, ließ ich lieber bleiben.
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