Ihr wahrer Name
Artikel von Arnold Praeger im Wall Street Journal, in dem er sowohl an Rhea Wiell als auch an den Gerichten Kritik übte, die Aussagen von kleinen Kindern zuließen, welche ganz klar in ihren Erinnerungen gelenkt worden waren. Rhea Wiell sei, schloß Praeger, keine seriöse Therapeutin. Denn wenn dem so wäre, warum hatte der Staat Illinois ihr dann gekündigt?
»Ihr gekündigt?« sagte ich zu Mary Louise und ließ mir diesen und noch ein paar andere Artikel ausdrucken. »Hast du das gewußt?«
»Nein. Ich dachte, sie habe sich einfach irgendwann mal für ihre Privatpraxis entschieden. Früher oder später haben alle keine Energie mehr, weiter fürs Familienministerium zu arbeiten.« Mary Louises helle Augen wirkten beunruhigt. »Ich habe sie immer für eine wirklich gute und aufrichtige Therapeutin gehalten und kann's nicht glauben, daß der Staat sie einfach so feuert, ohne triftigen Grund. Nun, vielleicht war da Neid im Spiel. Sie war die beste, die sie hatten, aber in solchen Behörden gibt's jede Menge Neider. Wenn sie vor Gericht aufgetreten ist, habe ich mir immer vorgestellt, sie wäre meine Mutter. Ich war sogar schrecklich eifersüchtig auf eine Frau, die beruflich mit ihr zu tun hatte.«
Sie lachte verlegen. »Ich muß los, die Kinder abholen. Die Nachforschungen zum Fall Sommers erledige ich als erstes morgen früh. Hast du deine Zeitlisten ausgefüllt?« »Ja, Ma'am«, sagte ich mit einem zackigen Salut.
»Du solltest das ein bißchen ernster nehmen, Vic«, sagte sie streng. »Sonst kommst du nie zu...« »Ja, ja.« Mary Louise läßt sich nicht gern necken, was manchmal langweilig sein kann. Aber aus dem gleichen Grund ist sie wahrscheinlich auch so gut im Büro.
Bevor sie ging, wiederholte sie ihr Versprechen, bei den Gerichten vorbeizuschauen und sich nach Radbukas Namensänderung zu erkundigen. Als Mary Louise weg war, wählte ich die Nummer einer Anwältin, die ich im Familienministerium, dem State Department of Children and Family Services, kannte. Wir hatten uns bei einem Seminar zum Thema Frauen und Recht im öffentlichen Sektor kennengelernt und waren seitdem in losem Kontakt geblieben.
Sie verwies mich an eine Abteilungsleiterin des DCFS, die sich nur unter der Voraussetzung mit mir unterhalten wollte, daß ich mit den Informationen nicht an die Öffentlichkeit ging. Sie bot mir an, mich von einem öffentlichen Telefon aus zurückzurufen, weil sie nicht wußte, ob ihre Büroleitung überwacht wurde. Ich mußte bis fünf warten, dann meldete sich die Frau schließlich auf dem Heimweg von einer Telefonzelle im Untergeschoß des Illinois Center. Bevor sie mir irgend etwas sagte, mußte ich ihr schwören, daß ich nicht im Auftrag der Planted Memory Foundation anrief.
»Nicht alle beim DCFS glauben an die Hypnosetherapie, aber es will auch keiner, daß unseren Schützlingen eine Klage von Planted Memory auf den Tisch flattert.«
Als ich ihr als Referenz einige Namen nannte und schließlich einer darunter war, den sie kannte und dem sie vertraute, redete sie erstaunlich offen mit mir. »Rhea war unsere einfühlsamste Therapeutin. Sie hat unglaubliche Ergebnisse mit Kindern erzielt, die anderen Therapeuten kaum ihren Namen gesagt haben. Sie fehlt mir immer noch, wenn wir es mit bestimmten Trauma-Fällen zu tun haben. Aber irgendwann hat sie leider angefangen, sich als Hohepriesterin des DCFS zu sehen, und man durfte weder ihre Ergebnisse noch ihr Urteilsvermögen in Zweifel ziehen. Ich weiß nicht mehr genau, wann sie ihre private Praxis eröffnet hat, vielleicht vor sechs Jahren, zuerst war sie immer nur ein paar Stunden am Tag da. Vor drei Jahren haben wir dann beschlossen, ihren Vertrag mit dem Staat zu kündigen. In der Pressemitteilung hieß es, es sei ihre Entscheidung gewesen, weil sie sich stärker auf ihre Praxis konzentrieren wolle, aber wir im Ministerium hatten eher das Gefühl, daß sie sich nichts mehr sagen ließ. Sie hatte immer recht, und wir oder der Generalstaatsanwalt oder wer auch immer nicht ihrer Meinung war, hatte unrecht. Es geht einfach nicht, daß eine Angestellte, auf die man sich im Umgang mit Kindern und vor Gericht verlassen muß, jedesmal die heilige Johanna spielen will.«
»Hatten Sie denn den Eindruck, daß sie hin und wieder Situationen um ihres eigenen Ruhmes willen verzerrte?« fragte ich.
»Nein, nein. Sie war nicht auf Ruhm aus; sie hatte eine Mission. Ein paar von den jüngeren Frauen haben irgendwann angefangen, sie Mutter Teresa zu nennen, und das
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