Ihr wahrer Name
Videorekorder. Ich warf Lotty einen raschen Blick zu, doch die Angst stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, daß ich sie nicht länger ansehen konnte. Als Paul Radbuka von seinen Alpträumen und seinen Rufen nach seiner Freundin aus der Kindheit erzählte, wandte ich den Blick nicht von ihm. Als alles, auch die Sendung »Auf den Straßen von Chicago« mit Rhea Wiell und Arnold Praeger, vorbei war, bat Lotty mich mit schwacher Stimme, zu dem Interview mit Radbuka zurückzuspulen.
Ich spielte es ein zweites und ein drittes Mal für sie ab, doch als sie es noch ein viertes Mal sehen wollte, weigerte ich mich, denn ihr Gesicht war grau vor Anstrengung. »Du quälst dich damit, Lotty. Warum?«
»Ich... die Sache ist verdammt hart.« Obwohl ich auf dem Boden neben ihrem Sessel saß, verstand ich kaum, was sie sagte. »Etwas von dem, was er sagt, kommt mir bekannt vor. Aber ich kann nicht richtig denken, weil... es geht einfach nicht. Ich hasse es, Dinge zu sehen, die mein Gehirn dazu bringen, nicht mehr richtig zu funktionieren. Glaubst du seine Geschichte?« Ich machte eine hilflose Geste. »Ich weiß es nicht, das Ganze ist so weit von meiner eigenen Lebensrealität entfernt, daß ich mich dagegen wehre. Ich habe gestern mit der Therapeutin gesprachen - nein, das war heute, ich hab' nur das Gefühl, daß es schon so lange her ist. Sie hat meinen Informationen zufolge eine Fachausbildung, aber ich halte sie für, nun, fanatisch. Eine Missionarin, was ihre Arbeit ganz allgemein anbelangt, und ganz besonders in diesem Fall mit Paul Radbuka. Ich habe ihr gesagt, daß ich mich gern mit Radbuka unterhalten würde, um zu sehen, ob tatsächlich eine Verbindung zwischen ihm und den Leuten bestehen könnte, die ihr, Max und du, kennt, doch sie läßt niemanden an ihn ran. Er steht nicht im Telefonbuch, weder als Paul Radbuka noch als Paul Ulf, also schicke ich Mary Louise zu allen Ulfs in Chicago. Vielleicht wohnt er immer noch im Haus seines Vaters, oder ein Nachbar erkennt ihn auf dem Foto. Wir wissen den Vornamen seines Vaters nicht.«
»Wie alt ist er deiner Ansicht nach?« fragte Lotty mich völlig unerwartet.
»Du meinst, ob er alt genug ist, das, wovon er erzählt, wirklich erlebt zu haben? Das könntest du wahrscheinlich besser beurteilen als ich, aber auch das ließe sich bei einem persönlichen Gespräch besser einschätzen.«
Ich holte die Fotos aus dem Umschlag und hielt sie ins Licht. Lotty sah sie sich lange an, schüttelte aber schließlich ratlos den Kopf.
»Warum habe ich nur geglaubt, daß ich sofort etwas Definitives sagen könnte? Max hat mich schon gewarnt. Ähnlichkeiten ergeben sich oft durch einen bestimmten Gesichtsausdruck, und außerdem sind das hier nur Fotos, Fotos von einem Video, um genau zu sein. Ich müßte den Mann selbst sehen, und auch dann - schließlich würde ich versuchen, ein Erwachsenengesicht in Einklang zu bringen mit der Erinnerung eines Kindes an jemanden, der damals viel jünger war als dieser Mann heute.«
Mit beiden Händen nahm ich ihre Hand. »Lotty, wovor hast du Angst? Es bricht mir fast das Herz, dich anzuschauen. Könnte er ein Angehöriger deiner Familie sein? Glaubst du, er ist mit deiner Mutter verwandt?«
»Wenn du irgendeine Ahnung von diesen Dingen hättest, würdest du mir keine solchen Fragen stellen.« Nun blitzte kurz ihr herrisches Wesen wieder auf. »Aber du kennst doch die Radbuka-Familie, oder?«
Sie breitete die Fotos auf dem Beistelltischchen aus wie ein Kartenspiel und schob sie hin und her, ohne sie wirklich anzusehen. »Ich habe vor vielen Jahren einige Angehörige der Familie gekannt. Die Umstände... als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war das ausgesprochen schmerzhaft für mich. Die Art und Weise, wie wir uns getrennt haben, meine ich, die ganze Situation. Wenn dieser Mann tatsächlich... ich kann mir nicht vorstellen, daß er der ist, für den er sich ausgibt. Aber wenn es die Wahrheit sein sollte, schulde ich es der Familie, mich mit ihm anzufreunden.« »Soll ich Nachforschungen für dich anstellen? Immer vorausgesetzt, es läßt sich überhaupt etwas nachforschen?«
Ihr lebhaftes dunkles Gesicht war angespannt. »Ach, Victoria, ich weiß nicht, was ich will. Am liebsten wäre es mir, wenn sich die Vergangenheit nicht so ereignet hätte, aber da das nicht möglich ist und ich nichts ändern kann, möchte ich, daß sie bleibt, wo sie ist, in der Vergangenheit, aus und vorbei. Dieser Mann, ich will ihn nicht kennenlernen. Doch mir
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