Illuminati
auch ein Vertrauter des verstorbenen Papstes gewesen, eine Tatsache, die seine Wertschätzung bei den anderen erhöhte. Obwohl theoretisch noch wählbar, war er bereits ein wenig zu alt, um als ernsthafter Kandidat zu gelten. Mit seinen neunundsiebzig Jahren hatte er längst die unausgesprochene Schwelle überschritten, ab der das Kollegium der Gesundheit des Kandidaten nicht mehr zutraute, mit dem engen Terminplan des Papstes zurechtzukommen. Ein Papst arbeitete üblicherweise vierzehn Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, und starb nach durchschnittlich sechs Komma drei Jahren an Erschöpfung. Ein Insiderwitz besagte, dass die Annahme der Wahl zum Papst für einen Kardinal der schnellste Weg in den Himmel sei.
Mortati, so glaubten viele, hätte in seinen jüngeren Tagen Papst werden können, wäre er nicht so liberal gewesen. Wenn es um das Papsttum ging, galten noch immer die heiligen drei K’s: konservativ, konservativer, noch konservativer.
Mortati hatte sich insgeheim stets darüber amüsiert, dass der verstorbene Papst, Gott hab’ ihn selig, sich nach seinem Amtsantritt selbst als überraschend liberal erwiesen hatte. Vielleicht hatte er gespürt, dass sich die moderne Welt von der Kirche weg entwickelte. Der Papst hatte Annäherungsversuche unternommen, die Position der Kirche gegenüber den Wissenschaften aufgeweicht und bestimmten wissenschaftlichen Projekten sogar finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Leider war es politischem Selbstmord gleichgekommen. Konservative Katholiken hatten den Papst für »senil« erklärt, und wissenschaftliche Kreise hatten ihn beschuldigt, den Einfluss der Kirche auf Gebiete auszuweiten, wo er nichts zu suchen habe.
»Wo stecken sie nur?«
Mortati wandte sich um.
Einer der Kardinale hatte ihm nervös auf die Schulter getippt. »Sie wissen, wo sie stecken, nicht wahr?«
Mortati verbarg das wahre Ausmaß seiner Besorgnis. »Wahrscheinlich noch beim Camerlengo.«
»So spät? Das wäre höchst ungewöhnlich.« Der Kardinal runzelte misstrauisch die Stirn. »Vielleicht hat der Camerlenge die Zeit vergessen?«
Mortati bezweifelte es ernsthaft, doch er sagte nichts. Er war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass die meisten Kardinäle den Camerlengo nicht besonders mochten. Ihrer Meinung nach war er viel zu jung, um so nah beim Papst zu dienen. Morati vermutete, dass ein Großteil ihrer Abneigung aus Eifersucht herrührte. Er persönlich bewunderte den jungen Mann, und er gratulierte dem verstorbenen Papst insgeheim zur Wahl seines Camerlengo. Mortati fand sich jedes Mal bestätigt, wenn er dem Camerlengo in die Augen sah, und im Gegensatz zu vielen Kardinälen stellte er die Kirche und den Glauben vor die Politik, der junge Camerlengo war ein wahrer Mann Gottes.
Die bedingungslose Hingabe des Camerlengos war in der Vatikanstadt legendär. Viele schrieben es dem wunderbaren Ereignis in seiner Kindheit zu… einem Ereignis, das im Herzen eines jeden Menschen bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Ein wirkliches Wunder, dachte Mortati und wünschte sich häufig, seine eigene Kindheit hätte ihm ein ähnliches Erlebnis beschert, dazu angetan, unerschütterlichen Glauben zu erwecken.
Unglücklicherweise und zum großen Pech der Kirche würde der junge Camerlengo, wie Mortati wusste, auch in späteren Jahren niemals Papst werden. Das Papsttum verlangte ein gewisses Maß an politischer Leidenschaft, etwas, das dem jungen Camerlengo offensichtlich vollkommen fehlte. Er hatte die Angebote »seines« Papstes, ihn in höhere Ämter zu befördern, viele Male abgelehnt – mit der Begründung, dass er es vorzöge, der Kirche als einfacher Mann zu dienen.
»Was nun?« Der Kardinal tippte Mortati erneut ungeduldig auf die Schulter.
Mortati sah auf. »Verzeihung?«
»Sie sind zu spät! Was machen wir nun?«
»Was können wir machen?«, entgegnete Mortati. »Wir warten. Haben Sie Vertrauen.«
Allem Anschein nach höchst unzufrieden über Mortatis Antwort zog sich der Kardinal zurück.
Mortati blieb noch einen Augenblick stehen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen und versuchte zu klarem Verstand zu kommen. In der Tat, was können wir tun?, fragte er sich. Er schaute am Altar vorbei hinauf zu Michelangelos berühmtem Fresko »Das Jüngste Gericht«. Das Gemälde trug nicht dazu bei, seine Besorgnis zu mildern. Es war ein grässliches, fünfzehn Meter hohes Bild von Jesus, der die Menschen in Gut und Böse teilte und die Sünder in die Hölle verbannte, wo es
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