Illusion - das Zeichen der Nacht
neben der halb leeren Flasche Mineralwasser, lag ein Zettel. Alex griff danach und begann zu lesen. Er war mit Bleistift geschrieben, in Janas hastig hingeworfener, schwer leserlicher Handschrift, und da stand:
Ich fahre nach Hause. Heute Mittag geht eine Maschine und es war noch ein Platz frei. Tut mir leid, Alex. Ich muss nachdenken und will allein sein. Ruf mich die nächsten Tage nicht an. Sei mir nicht böse.
Der Zettel war nicht unterschrieben, aber das war auch nicht nötig.
Jana war abgereist, ohne sich zu verabschieden. Im Grunde überraschte es Alex gar nicht mal so sehr. Sie war sauer, dass er in den Tagen, in denen sie allein in Venedig gewesen war, nicht angerufen hatte. Außerdem war seine Reaktion nach der gemeinsamen Vision der letzten Nacht nicht gerade fair gewesen. Schließlich konnte er ihr nicht etwas vorwerfen, was nicht einmal wirklich passiert war. Der Kuss zwischen Jana und Erik, dieser Kuss, der der Vision plötzlich eine ganz andere Richtung gegeben hatte, konnte eine rein symbolische Bedeutung haben, das hatte Jana ja auch selbst gesagt. Und er hatte eifersüchtig und irrational reagiert und sich von seiner schlechtesten Seite gezeigt.
Genau deshalb wollte er das Buch nicht finden. Vor allem nicht mit ihr zusammen. Wenn die Visionen eins klargemacht hatten – zumindest ihm –, dann dass das Buch sie auseinanderbringen würde. Und nicht nur das. Er hatte es schon mehrmals gesehen, manchmal im Traum, manchmal in kurzen Halluzinationen, die ihn im Wachzustand überfallen hatten: Das Buch rief ihn herbei, aber wenn er sich darauf einließ, hieß das, Jana wehzutun.
Allerdings war die Vision gestern Nacht anders gewesen. Sonst hatte er immer sich selbst gesehen, und zwar als dunklen, bedrohlichen Schatten, der unwiderstehlich von der Wand eines Tempels oder vielleicht einer Höhle angezogen wurde, und diese Wand war über und über mit Symbolen bedeckt, dem Text des Buchs der Schöpfung. Er wollte diese Zeichen unbedingt lesen, sie lockten ihn zu sich, übten eine ungeheure Faszination auf ihn aus, der er sich nicht entziehen konnte. Aber Jana stellte sich ihm jedes Mal in den Weg. Sie stand zwischen ihm und der Wand und hinderte ihn daran, die Zeichen deutlich zu sehen. Er rief ihr zu, sie solle zur Seite gehen, aber sie schien es nicht zu hören. Sie blieb dort stehen, lächelte ihn an, ohne etwas zu begreifen, davon überzeugt, dass sie das, wohinter er her war, miteinander teilen konnten. Aufgebracht ging Alex weiter auf die Wand zu, wild entschlossen, zum Text des Buches zu gelangen. Als er die Hand hob, um Jana beiseitezuschieben, hörte er eine Stimme. Sie gehörte Erik und er befahl ihm, stehen zu bleiben, Jana nicht anzufassen, denn diese Berührung voller Hass und Ehrgeiz würde sie töten.
Diese Elemente hatten sich in jeder einzelnen Vision wiederholt, die er zum Buch der Schöpfung gehabt hatte, nur nicht in der von letzter Nacht. Da tat Erik nichts, um ihn aufzuhalten. Er und Jana lagen auf Eriks Grab, eng umschlungen und in das kalte Licht der Essenz der Macht getaucht. Als Alex die beiden sah, hatte er einen Moment lang das Buch vergessen und sich mit ganzer Kraft gewünscht, diese Umarmung zu beenden und sich zwischen die beiden zu drängen. Aber die Anziehungskraft des Buchs war sogar stärker als seine Eifersucht, also hatte er seine Gefühle ignoriert und war weitergegangen. Diesmal trat ihm niemand in den Weg. Er konnte sogar das erste Symbol des Buchs erkennen … Welches war es gewesen? Er hatte es vergessen.
Er wusste nur, dass das Entziffern dieses Symbols Jana das Leben gekostet hatte. In diesem Punkt stimmte die Vision wieder mit den anderen überein. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er als Einziger auf der ganzen Welt die kurilische Kopie des Buchs der Schöpfung lesen konnte, ohne deswegen sein Leben lassen zu müssen; aber dieselbe Stimme sagte ihm auch, dass der Preis, den er dafür bezahlen musste, Janas Tod sein würde.
Verwirrt vom Anblick des leeren Zimmers setzte Alex sich auf das ungemachte Bett. Es verströmte noch den frischen Duft von Janas Parfüm. In einem Anfall von Selbstmitleid begrub er das Gesicht im Kopfkissen und ließ zu, dass der Kloß in seiner Kehle sich in ein Schluchzen auflöste. Aber bevor ihm die Tränen in die Augen stiegen, richtete er sich wieder auf, sprang vom Bett und lief zur Eingangstür der Suite.
Bevor er hinausging, fiel sein Blick auf die elektronische Schlüsselkarte, die an ihrem Platz neben dem Lichtschalter
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