Illusion - das Zeichen der Nacht
denn dann vor?«, fragte Alex und klappte die Handschrift abrupt zu.
»Eine Vision.« Jana schluckte, entschlossen, dem Blick ihres Freundes standzuhalten. »Vielleicht wird sie nicht besonders angenehm sein, aber ich glaube, dass es keinen anderen Weg gibt.«
»Du willst eine Vision herbeirufen?« Alex wirkte völlig perplex.
»Eine gemeinsame Vision«, präzisierte Jana. »So wie gestern. Ich weiß, dass du die Erfahrung nicht mochtest, dass sie hart für dich war« – beeilte sie sich hinzuzufügen –, »aber wenn wir das Buch finden wollen, ist das wahrscheinlich der Preis.«
Es kam ihr so vor, als würde Alex ein wenig blass werden.
»Also, versteh mich nicht falsch, denk jetzt nicht, ich will mich drücken.« Er sprach die Worte viel zu hastig aus. »Ich hab keine Angst vor dem, was ich da vielleicht zu sehen bekomme, die Sache ist nur – ich werde keine Hilfe sein, Jana, ganz im Gegenteil. Ich bin ein Mensch, kein Medu.«
»Du bist ein halber Medu«, rief Jana ihm in Erinnerung. »Der letzte direkte Nachfahre der Kurilen, um genau zu sein. Und du hast oft genug bewiesen, wie mächtig deine Visionen sein können.«
»Nein. Jetzt nicht.« Alex versuchte, seine Weigerung mit einem Lächeln abzumildern. »Ich bin noch ganz erschöpft von der Vision gestern. Körperlich erschöpft, verstehst du, was ich meine? Ich will nicht meine letzten Energiereserven mit einer neuen Vision aufbrauchen, wenn mein Beitrag eigentlich gar nicht nötig ist.«
Jana hob die Brauen und sah ihn fragend an.
»Du weißt genau, dass ich recht habe«, sprach Alex weiter. Seine Stimme gewann an Sicherheit, je länger er seine Argumente vorbrachte. »Du kannst Visionen auch allein herbeirufen, dazu brauchst du mich nicht.«
»Du willst, dass ich das Buch alleine finde?«, fragte Jana erstaunt. »Ich weiß nicht mal genau, ob ich das überhaupt könnte.«
»Und ob du das kannst. Da habe ich überhaupt keinen Zweifel. Ich werde hier bei dir sein, falls was schiefgeht. Du musst dich nur konzentrieren und alles außer dem Buch vergessen.«
»Sogar dich?«
»Sogar mich. Das kannst du, ganz bestimmt. Außerdem hast du doch den Stein.«
»Den Sarasvati-Mond«, erinnerte sich Jana mit einem Schauder. »Den habe ich seit Eriks Tod nicht mehr benutzt.«
»Dabei ist er jetzt mächtiger denn je. Wenn man bedenkt, was darin steckt …«
Jana bekam eine Gänsehaut, als sie sich an die drei identischen Gesichter von Pertinax’ Töchtern erinnerte. Nie würde sie den Moment vergessen, in dem sie sie besiegt und in den kleinen magischen Edelstein eingesperrt hatte: Urds Puppengesicht, ihre hasserfüllten blauen Kulleraugen und ihr Entsetzen, als sie sich ihrer Niederlage bewusst wurde. Und vor allem Pertinax’ gerunzelte Stirn und seinen leeren Blick, seinen wahnsinnigen Gesichtsausdruck, als er begriffen hatte, dass er seine Töchter nie wiedersehen würde.
»Es wäre mir lieber, wenn es ohne den Stein ginge«, sagte sie flüsternd.
»Aber Jana, wir haben keine andere Wahl.« Alex’ Ton war so überzeugend, dass Jana sich fragte, ob er seine Stimmtricks jetzt nicht auch bei ihr anwandte. »Vertrau mir. Wenn wir das Buch erst einmal haben, kommt niemand mehr gegen uns an.«
Jana seufzte. Es stimmte schon, was Alex sagte. Der Stein gehörte ihr und sie hatte das Recht, ihn zu benutzen, um eine Vision anzulocken. Sie konnte es zumindest versuchen.
Sie machte ein paar Schritte von dem Regal weg und blieb dann auf den abgetretenen Fliesen stehen, betrachtete die Lehmfigur, die im Katalog der Loredan-Stiftung als »Buch der Schöpfung« gelistet war. Es stimmte schon, die verblichenen Zeichen, mit denen die Skulptur bedeckt war, besaßen keine Macht. Aber vielleicht gab es irgendeinen Weg, ihnen Leben einzuhauchen, ihnen die Bedeutung, die sie einmal gehabt haben mussten, zurückzugeben. Der blaue Schein des Sarasvati hatte schon einmal bewiesen, wie viel Macht in ihm steckte – als es darum gegangen war, ein Buch der Kurilen zu lesen. Vielleicht konnte sie ihn ja jetzt dazu benutzen, die toten Zeichen zu »reanimieren« und lesbar zu machen.
Eine lange Anrufung in der heiligen Sprache der Agmar würde den Saphir herbeiholen. Janas Lippen begannen, sich zu bewegen, im Flüsterton die längst in Vergessenheit geratenen Worte herzusagen, ganz exakt jeden einzelnen Laut nachzubilden, jede Silbe dieses geheimnisvollen, mächtigen Gebets, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte, als sie erst zehn Jahre alt gewesen war.
Es vergingen mehrere
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