Illusion - das Zeichen der Nacht
Minuten. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, nichts im Raum regte sich. Sogar Alex’ Körper war so starr wie der einer Statue. Kein Laut außer den Worten der merkwürdigen, nicht enden wollenden rituellen Formel durchbrach die Stille im Raum.
Mit einem Mal schwebte etwa dreißig Zentimeter vor Janas Gesicht etwas in der Dunkelheit. Der Sarasvati.
Sein blauer Lichtstrahl traf schräg auf die Bodenfliesen. Jana streckte die Hand aus, ohne den Stein zu berühren. Dieser drehte sich ein wenig um die eigene Achse. Jetzt war das blaue Licht auf die Lehmstatue gerichtet, leuchtete die verwaschenen Symbole auf dem linken Fuß an. In diesem wasserblauen Licht waren die Zeichen deutlicher zu sehen, aber sonst schienen sie sich nicht verändert zu haben. Die Statue stand so still da wie vorher. Kein neues Symbol tauchte auf ihrer Oberfläche auf, nichts, das helfen konnte, die Geheimnisse dieses Textes zu lüften, von dem gesagt wurde, er sei so alt wie die Welt selbst.
Da hatte Jana eine Idee. Wenn die Essenz des Buchs etwas Immaterielles war, das sie mit ihren fünf Sinnen nicht erfassen konnte, musste sie vielleicht auf ihre Sinne verzichten, ihren Körper vorübergehend verlassen und sich auf die spirituelle Ebene begeben, um Zugang zu dem mysteriösen unsichtbaren Text zu finden, den sie suchte. Und dabei konnte ihr der Sarasvati helfen.
Jana wusste, wie das ging, auch wenn sie es noch nie gemacht hatte. Den eigenen Körper zu verlassen, stellte ein Wagnis dar, das nicht zu unterschätzen war, denn wie sie gelesen hatte, war es nicht immer einfach, in ihn zurückzukehren. Ganz gleich, wie mächtig ein Geist auch sein mochte, der materiellen Welt gegenüber war er immer im Nachteil. Sogar ein schwacher, völlig untrainierter Körper konnte mit ihm fertig werden.
Aber diese Möglichkeit durfte sie nicht ungenutzt lassen. Ohne ihre körperliche Hülle würde sie die verborgene Seite dieses Raumes wahrnehmen können, den Teil, zu dem sie mit ihren Sinnen keinen Zugang hatte. Wenn Dajedis Buch hier war, würde sie es entdecken. Und dann würde sie auch endlich herausfinden, was hinter diesen blitzartig auftauchenden Schatten steckte, die die Gestalt von Alex annahmen und sich verflüchtigten, sobald sie genauer hinsah.
Jana formte die Hände zu einer Schale, fing darin den blauen Lichtstrahl auf, der von dem Saphir ausging, und wandelte ihn in leuchtenden Ton um, den sie mit den Fingern modellierte, bis er die Form eines Mondes hatte. Diesen Mond aus magischem Licht drückte sie sich vorsichtig an die Stirn.
Kaum hatte er ihre Haut berührt, wurde Jana von einer mächtigen Welle erfasst, die ihren Körper zu Boden warf und sie von ihm trennte.
Plötzlich sah sie sich selbst von oben, als hätte die Berührung mit dem Mond eine Art Astralleib aus ihr gemacht. Obwohl dieser Körper, in dem sie normalerweise steckte, nun getrennt von ihr als lebloses Bündel auf dem Boden lag, hatte sie auch in ihrem neuen Zustand körperliche Empfindungen. Sie spürte ihre Füße, ohne welche zu haben, zumindest keine, die man sehen konnte. Und genauso ging es ihr mit den Händen, dem Haar, der Gesichtshaut … Es war, als hätten sich alle ihre Gliedmaßen verdoppelt, als wäre jede Empfindung ein fernes Echo des Nervengewebes, in dem sie entstanden war.
In diesem neuen Zustand fühlte Jana sich sehr verletzlich, zugleich aber auch leicht und von ihrer unsichtbaren Hülle geschützt. Alex kniete neben ihrem Körper und musterte ihn aufmerksam. Er wirkte nicht erschrocken, sondern erwartungsvoll. Es war, als wäre er von vornherein auf so etwas gefasst gewesen, als hätte er gewusst, was sie tun würde. Aber woher hätte er das wissen sollen? Jana hatte ihm nie erzählt, dass der Stein die Macht hatte, den Körper vom Geist zu trennen. Er musste es irgendwie anders erfahren haben.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie mit diesen Gedanken kostbare Zeit verschwendete. Ihr Geist konnte nur wenige Minuten von ihrem Körper getrennt überleben und die musste sie nutzen, um diesen unheimlichen Raum bis in den letzten Winkel zu erkunden. Sie wandte sich den geschlossenen Fensterläden zu und sah vor ihrem geistigen Auge den hellen Ausschnitt des Himmels und die Umrisse der Gebäude, die sich dahinter verbargen. Dort waren die Antworten, nach denen sie suchte, bestimmt nicht zu finden.
Also wanderte ihr Blick über die modrige Wand bis in eine Ecke voller Spinnweben und dann weiter zur Tür, durch die sie hereingekommen waren.
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