Iluminai - Das Zeichen der Drachenhüter (Iluminai - Kabal Shar) (German Edition)
Pferden, die das Heck des Schwanenschiffes beinahe erreicht hatten, wurden in alle Himmelsrichtungen davongeweht und stürzten haltlos in die Schluchten hinunter. Auch das Schwanenschiff war vom Orkan erfasst worden und wurde von einer heftigen Windböe weit in den Himmel hinaufgeschleudert.
Lucy, die in einem der Zimmer unter Deck auf dem Boden saß, spürte, wie die Spanten und Bohlen unter dem Ansturm vibrierten und ächzten.
„Was hast du getan!“, kreischte Jonkanur, der wie ein Verrückter mit den Flügeln ruderte und nicht mehr damit erreichte, als dass sie noch schneller in die Schlucht hinuntergewirbelt wurden.
Der Sturm heulte auf und trieb sie genau auf die glatte Felswand zu, die rasend schnell herangeschossen kam.
„Du musst hochziehen!“, brüllte Nevantio. „Sonst zerschellen wir!“
Jonkanur antwortete nicht. Er schlug mit den Schwingen wie ein Schmetterling, der einer Sommerbriese zu entkommen versucht und reckte den langen Hals in die Höhe. Kurz bevor sie aufschlugen, schloss er die Augen und wartete auf den tödlichen Aufprall ... aber er kam nicht.
Gleich darauf segelte der Drache in einem eleganten Bogen über die Kante der Schlucht hinweg.
Miray hatte sich das Medaillon vom Hals gerissen und hielt es zitternd in der Hand.
„Mein lieber Junge“, sagte Jonkanur, der nun mit einem leichten Schwung nach oben flog. „Mach das nie wieder, hast du mich verstanden?“
„Ich konnte ja nicht ahnen ...“, begann Miray.
„Schon gut“, unterbrach Nevantio ihn. „Ich fand es gar nicht so schlecht. Und du hast sowohl die Grauen Hexer, als auch die Greife in alle Winde zerstreut.“
39. Der Wald ohne Namen
Fay saß in Nyasintas Seidentuch gehüllt auf einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete die Gesichtslosen und Estarius, die sich zwischen den Bäumen dieses seltsamen Waldes versammelt hatten.
Das Tuch hatte ihr gute Dienste geleistet, seit sie sich unbemerkt auf Jonkanurs Rücken geschwungen hatte, um ihre Schwester und ihren Bruder zum Grund der Toten Stadt zu begleiten. Seitdem war es für sie zu einer Art Schutzschild geworden. Die Grauen Hexer konnten sie zwar trotzdem sehen, aber für Fay offenbarten sich ebenfalls Geheimnisse dadurch.
Schon als sie das Tuch in Shindistan übergestreift hatte, hatte sie eine deutliche Veränderung der Wirklichkeit wahrgenommen. Man sah und hörte Dinge, die man unter normalen Umständen nicht bemerkte. In der Gegenwart der Grauen Hexer hatte das Tuch noch eine ganz andere, bisher ungeahnte, Funktion gezeigt. Fay konnte die Grauen Hexer sehen, wie sie wirklich waren.
Wenn die Prinzessin das Tuch trug, erblickte sie keine Armee hünenhafter, grau gekleideter Männer. Sie sah einen Haufen heruntergekommener Halunken, die weder besonders groß, noch beeindruckend wirkten. Es waren ganz normale Menschen, denen das Leid in die trauernden Gesichtszüge geschrieben stand. Viele von ihnen waren verletzt oder verkrüppelt. Manche humpelten, andere wirkten, als hätten sie Fieber. Alles, was sie am Leben erhielt, war der machtvolle Zauber, der sie als graue, hoch gewachsene Krieger erscheinen ließ.
Das allein war noch nicht alles. Auch die Gesichtslosen veränderten ihr Aussehen, sobald Fay sich das Seidentuch überstreifte. Sie wirkten ebenfalls kleiner und weniger mächtig. Aber das Wichtigste war: Sie hatten Gesichter! Es waren keine schönen Gesichter, sie wirkten alt und verlebt, und die meiste Zeit über hielten sie die Augen geschlossen. Aber die Gesichtslosen verloren dadurch ihren Schrecken für Fay, und sie konnte in ihnen die Menschen erkennen, die sie früher vielleicht einmal gewesen waren. Auf diese Weise vermochte die Prinzessin ihre Gegenwart zu ertragen und fühlte sich ein kleines bisschen sicherer.
Estarius, der nun auf sie zu getreten kam, war der Einzige, der durch das Tuch gesehen an Glanz gewann.
Fay erblickte einen hoch gewachsenen Elbenkönig. Das lange schwarze Haar glänzte und war in dicken Zöpfen, mit Silberspangen versehen, auf den Rücken geflochten. Seine Gesichtszüge wirkten edel und gütig. Seine Augen leuchteten von einer inneren Kraft, die dem Geschlecht der Menschen niemals eigen sein würde. Sein Gang war kraftvoll und jugendlich, und selbst seine Stimme klang anders, wenn Fay das Tuch als Schutz trug.
„Ich hoffe, Ihr seid unverletzt?“, erkundigte sich Estarius und setzte sich neben Fay auf den Baumstamm.
„Wo sind wir hier?“, wollte die Prinzessin
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