Im Abgrund der Ewigkeit
meines eigenen Neffen in die Hölle zu stoßen. Gott vergib mir.“
„Du hattest keine andere Wahl.“
„Das mag sein. …Aber Asmodeo, sag mir die Wahrheit.“
„Natürlich, Franz.“
Der Abt schloss seine Augen, konzentrierte sich und als er weiter sprach, klang seine Stimme fester und deutlicher. „Sag mir, Asmodeo, werde ich sterben?“
Asmodeo zögerte mit der Antwort. „Du bist ein zäher Bursche. Du wirst das hier schon schaffen.“
„Ich will jetzt keine Ausflüchte. Du bist mir die Wahrheit schuldig!“
Asmodeo holte tief Luft. „Du bist schwer verletzt. Du wurdest dreimal operiert. Und Frau Dr. Naumann kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob du genug Kraft aufbringen kannst, dich zu erholen. Sie meinte, diese Nacht bringt die Entscheidung. Aber ich bleibe bei dir und gemeinsam werden wir das schon durchstehen.“
Der Abt öffnete die Augen. Sein Lächeln war sanft und ließ ihn um Jahre jünger erscheinen. „Asmodeo, mein guter lieber Dämon. Du irrst dich. Ich fürchte mich nicht davor, zu sterben. Ich bin ein alter Mann. Und der Gedanke an das Jenseits macht mir keine Angst. Aber…“, der Abt hob den Zeigefinger seiner rechten Hand, „…ich kann jetzt nicht einfach gehen. Ich muss vorher noch vieles in Ordnung bringen.“
„Wenn dir das wichtig ist, werde ich dir dabei helfen, so gut ich kann.“
„Daran habe ich nie gezweifelt. Ich war mir immer sicher, dass ich mich hundertprozentig auf dich verlassen kann.“
Asmodeo ergriff die freie Hand des Abts und drückte sie leicht.
„Geh in mein Büro. Nimm das große Kreuz, das hinter meinem Schreibtisch hängt, herunter und bringe es zu mir.“
„Ist das alles?“
„Mehr als wir beide zu leisten in der Lage sind, fürchte ich.“
2
E rschöpfung und Müdigkeit hatten den Abt übermannt. Ein traumloser Schlaf riss ihn mit sich. Als er die Augen öffnete, stand Asmodeo vor seinem Bett, in den Händen ein schlichtes Holzkreuz.
„War ich lange weg?“, fragte der Abt.
„Ich bin erst seit ein paar Minuten wieder hier“, log Asmodeo. „Was soll ich jetzt damit?“ Als wäre es ein Fremdkörper streckte er das Kreuz dem Abt entgegen.
Dieser lächelte schwach. „Nein, ich brauche es wirklich nicht. Es ist für dich. …Leg es auf den Tisch. Auf der Rückseite findest du einen Hebel.“
Asmodeos Hand fuhr suchend über das dunkle Holz.
„Ziemlich weit oben“, konkretisierte der Abt. „Drück ihn nach unten.“
Asmodeo führte die Anweisung aus und ein kleiner Deckel klappte auf. Darunter kam ein Hohlraum zum Vorschein, in dem eine rund dreißig Zentimeter lange Röhre aus getriebenem Silber steckte.
„Hast du den Behälter?“
„Ja.“
„Nimm ihn heraus und öffne ihn. Du wirst ein Pergament darin finden.“
Der Verschluss der silbernen Kapsel ließ sich bewegen. Asmodeo schraubte ihn ohne jede Hast auf, zog ein vergilbtes Dokument heraus, das in seinen Händen raschelte, wie abgestorbenes Laub im Herbstwind.
„Soll ich es vorlesen, Franz?“
„Nein, das brauchst du nicht. Ich habe es mehr als tausendmal gelesen, tausende Nächte davon geträumt.“
„Waren das angenehme Träume?“, fragte Asmodeo und seine Augen wurden dunkel.
Der Abt versuchte zu lächeln, aber sein Mund zitterte. „Albträume. Die schlimmsten, die man sich vorstellen kann. …Aber überzeuge dich selbst.“
Jahrhundertelang hatte Asmodeo keine sumerische Keilschrift mehr entziffert, geschweige denn die Sprache gehört. Anfänglich tat er sich schwer, aber nach wenigen Worten fiel ihm alles wieder ein. Die Laute, deren Bedeutung, die Menschen. Die gigantischen Bauten, die bluttriefenden Tempel. Ihm war, als wäre er erst gestern durch die Straßen von Ur, der sumerischen Hauptstadt, geeilt, auf der Suche nach Opfern, die er ins Verderben stürzen konnte, auf der Suche nach immer ausgefalleneren Sünden und Lastern.
Er las die folgenden Worte:
Liliths Lied
Lilith, der Engel,
Wächterin und Schlüssel der Tore zugleich.
3000 Jahre Sicherheit,
250 Jahre Samael gehörend,
der Zyklus, seit Anbeginn der Zeit.
Getrennt von den Ihren,
kann Samael nicht ruhen,
sie zu sich zu holen,
durch die immerwährende Mauer.
Lilith der Engel,
Wächterin und Schlüssel der Tore zugleich.
Bevor der große König und die Königin
den Tod finden,
wird sie gesandt.
Zu siegen über Samael
mit dem Dämon, der Bruder ist,
und dem Priester, der gefallen,
und zu beenden den Zyklus für alle Zeit,
oder zu
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