Im Angesicht der Schuld
brauche dich nur anzuschauen, um zu wissen, wie es dir geht. «
Ich atmete hörbar aus. » Es gibt Momente, da bringt Jana mich zum Lachen. Für Sekunden ist das wunderschön, und ich spüre nur dieses kleine Glücksgefühl. Aber dann folgt der Absturz, dann habe ich Gregor vor Augen und … « Ich griff nach dem kleinen Anker. » Es is t w ie Achterbahnfahren. Ständig habe ich das Gefühl, hinauszufallen, wenn ich mich nicht fest genug halte. Findest du das normal? «
» Ich glaube, die Normalität ist außer Kraft gesetzt, wenn ein naher Mensch stirbt. Es gibt kein richtiges oder falsches Verhalten, genauso wenig wie es richtiges oder falsches Fühlen gibt. Von einem Moment auf den anderen ändert sich dein ganzes Leben, der gemeinsame Lebensplan zerbricht in winzige Stücke, die sich nie wieder zusammenfügen lassen. «
» Es tut entsetzlich weh, Claudia. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie es jemals besser werden soll. «
Sie beugte sich über den Tisch, nahm meine Hand in ihre und sah mich eindringlich an. » Eines Tages wirst du überrascht feststellen, dass du den Schmerz für ein paar Stunden vergessen hast. Dieser Moment wird dich erschrecken. Aber glaube mir: Den Schmerz zu vergessen bedeutet nicht, den Menschen zu vergessen. «
Meine Tränen tropften auf den Teller vor mir. Ich schob ihn zur Seite. » Gregor war … « Der Rest des Satzes ging in Schluc h zen unter.
» Ich weiß, Helen «, sagte sie leise, » ich weiß, was er für dich war. « Sie kam um den Tisch herum, setzte sich neben mich und streichelte mir über den Rücken. Ihre Augen schwammen wie meine in Tränen.
Es dauerte, bis ich wieder einen klaren Satz herausbringen konnte. » Franka Thelen hat zu mir gesagt: Eine Sekunde … ein flüchtiger Augenblick hat über Tills Leben entschieden und das Leben von allen Beteiligten von Grund auf verändert. Solch ein flüchtiger Augenblick hat auch über Gregors Leben entschieden. Irgendetwas ist dort oben auf diesem Balkon geschehen. Von einer Se kunde auf die andere ist dort jemand zum Mörder geworden. Und ich möchte wissen, warum. «
I ch hatte an diesem Nachmittag noch ein paar Mal versucht, Joost im Institut zu erreichen, und schließlich aufgegeben. Um die Stunden nicht wartend zu Hause zu verbringen, zog ich Jana warm an und machte mit ihr einen Spaziergang zur Kanzlei. Der Regen hatte zum Glück aufgehört. Die Pfützen, die er hinterla s sen hatte, bescherten Jana einen Heidenspaß. Mit ihren Gumm i stiefeln hüpfte sie in jede hinein und konnte sich jedes Mal aufs Neue an dem aufspritzenden Wasser erfreuen.
Als wir vor dem Haus der Kanzlei ankamen, hatte ich meine Mühe, sie von ihrem Spiel loszueisen. Ich konnte sie nur damit locken, dass sie alle Knöpfe im Aufzug und dazu noch die Klingel der Kanzlei drücken durfte.
Ruth Lorberg öffnete uns. Kaum hatte sie Jana entdeckt, strahlte sie. » Wie schön, dass Sie Ihre Tochter mitbringen! «
Jana legte in ihrem Kauderwelsch los, lief an Ruth Lorberg vorbei und stapfte entschlossen ins nächstgelegene Büro. Beachtlich schnell kletterte sie auf den Schreibtischstuhl und begann, mit ihren Fingerchen die PC-Tastatur zu bearbeiten. Gerade wollte ich sie hochnehmen, als Gregors Mitarbeiterin mir bedeutete, Jana nicht zu stören.
» Lassen Sie nur. Ich habe eben alles gespeichert, es kann also nichts passieren. Mögen Sie einen Kaffee oder einen Tee? «
» Gerne einen Tee. «
Während sie in der Küche verschwand, ging ich in Gregors Büro. Alles wirkte unverändert. Der Raum sa h a us, als würde er gleich wiederkommen. Ich setzte mich an seinen Schreibtisch und legte meine Hände flach darauf. Hier hatte er so viel Zeit verbracht, und nur wenige Meter von hier war seiner Lebenszeit ein Ende gesetzt worden.
» Hier … bitte «, sagte Ruth Lorberg und stellte eine Tasse vor mich. Sie setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. » Meine Kollegin und ich wechseln uns jetzt übrigens ab. Es ist im Moment nicht nötig, dass wir beide jeden Tag hier sind. Auße r dem müssen wir die Zeit nutzen und uns nach neuen Jobs umsehen. Ich hoffe, es ist Ihnen recht. «
» Natürlich. «
» Es gibt übrigens mehrere Interessenten für die Kanzlei. Ich stelle Ihnen die Unterlagen zusammen, sobald wir alle hier haben. Dann können Sie mit den Leuten verhandeln. «
» Da überschätzen Sie meine Fähigkeiten, Frau Lorberg. Ich habe keine Ahnung davon. «
» Dann überlassen Sie es dem Steuerberater, er hat ganz sicher Ahnung davon.
Weitere Kostenlose Bücher