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Im Auftrag der Rache

Im Auftrag der Rache

Titel: Im Auftrag der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Col Buchanan
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er inne, setzte sich und dachte nach.
    Es war Chés Aufgabe, so viel über die Welt zu wissen, wie es ihm nur möglich war. Daher befanden sich in seiner kleinen Bibliothek viele Reiseberichte, Tagebücher und Kartenwerke sowie Texte über Religionen und Gesellschaftssysteme. Manchmal vermutete Ché, dass es dieses Wissen war, das hinter dem Gefühl des Misstrauens steckte, mit dem ihm seine Betreuer manchmal zu begegnen schienen – dieses Übermaß an Wissen um andere Kulturen und Ideologien, die mit Mhann im Widerspruch standen.
    Am Ende wählte er eines der Werke von Slavo aus, einen Bericht der Reisen des Markeschianers – vermutlich eine Fantasie – ans andere Ende der Welt und über die fremden Völker, die er dort vorgefunden hatte. Es war schon eine Weile her, seit Ché dieses Buch gelesen hatte.
    Im letzten Augenblick steckte er noch sein Exemplar der Heiligen Schrift ein, das geschlossen hoch oben auf dem Bücherregal lag. Seit seiner Rückkehr zum Leben von Mhann hatte er dieses Buch erst einmal ganz durchgelesen. Es war ein Teil seiner Umerziehung gewesen, nachdem er so viele Jahre als R o ¯ schun-Lehrling in den Bergen von Cheem gelebt hatte. Die Spionpriester der Élasch hatten ihn langsam wieder in den Weg des Göttlichen Fleisches eingeführt, bevor sie ihm mitgeteilt hatten, dass er zum Diplomaten der Sektion gemacht werden würde.
    Er nahm den dünnen Band und packte ihn widerstrebend ein.
    *
    In den abendlichen Stunden der zunehmenden Dunkelheit saß Ché in seinem Armlehnsessel im Wohnzimmer, das von Gaslampen erhellt wurde. Er hatte eine saubere weiße Robe angezogen, sein Magen war angenehm gefüllt, und mit einem bescheidenen Glas seratischen Wein in der Hand schaute er gedankenverloren auf die Straße unter ihm.
    Seine Stimmung von vorhin war verschwunden. Stattdessen fühlte er sich nun, da er gepackt hatte und ihm nichts anderes übrigblieb, als auf den Morgen zu warten, ein wenig niedergeschlagen, während das, was ihm bevorstand, immer deutlicher in ihm wurde. Das Leben als Diplomat erlaubte ihm eine Existenz in segensreicher Abgeschiedenheit von seinesgleichen. Aber jetzt würde er wochenlang Seite an Seite mit den anderen Priestern sowie mit der Matriarchin und ihrem Gefolge von Speichelleckern leben müssen. Er würde auf jeden Schritt und auf jedes Wort achtgeben müssen. Das war nicht leicht, vor allem nicht jetzt, wo seine Gedanken mit allem um ihn herum in größerem Widerspruch standen als je zuvor.
    Seit Cheem und seinem Verrat an den R o ¯ schun war langsam, aber stetig eine brodelnde Wut in Ché aufgestiegen. Er spürte sie immer dann, wenn er während eines gewöhnlichen Tages einmal die Geduld verlor oder Dinge sagte, die er nicht hätte sagen sollen, oder wenn er die Autoritäten mit seiner scheinbaren Überheblichkeit reizte, die in Wirklichkeit lediglich ein lockeres geistiges Achselzucken und ein Mangel an Mitgefühl war. Es war, als wollte er wegen seines Verhaltens zur Rede gestellt werden – als wollte er es mit den anderen Priestern auskämpfen, wobei ihm die Konsequenzen egal waren. Vielleicht war es so etwas wie ein Todeswunsch, der allmählich an Dringlichkeit gewann.
    Ché nahm noch einen Schluck Wein. Er genoss die leichte Bitterkeit im Gaumen; sie passte vollkommen zu dem Hasenpfeffer, den er zum Abendessen gehabt hatte und dessen Geschmack ihm noch auf der Zunge lag. Er hörte, wie Schnurri in der Küche die schmutzigen Töpfe und Teller abwusch.
    Endlich hatte der Regen aufgehört, und die Leute traten auf die Straße und begaben sich zu ihren abendlichen Lustbarkeiten. Eine Weile beobachtete Ché einen Zuhälter, der sein kleines Reich von einer Straßenecke aus regierte. Der Knabe stolzierte mit vorgereckter Brust unter den Straßenlaternen umher. Als Ché dessen müde wurde, richtete er seine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe junger Männer und Frauen, die auf einer niedrigen Mauer hinter einer Tramhaltestelle saßen, Haziistäbe herumreichten, schwatzten und lachten und sich an der Nähe der anderen wärmten. Sie schienen nicht viel jünger als Ché zu sein, doch er beobachtete sie mit den Augen eines alten Mannes.
    Zuerst bemerkte er Schnurri nicht, als sie in das Wohnzimmer trat. Sie hatte die Hände vor dem Bauch gefaltet und wartete darauf, für den Abend entlassen zu werden. Die Frau räusperte sich, und er drehte sich um, blinzelte und starrte ihr müdes, eingefallenes Gesicht an.
    Ché hatte keine Ahnung, wie diese Frau in Wirklichkeit hieß.

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