Im Auftrag des Tigers
Silber- und Brom-Material der Daguerreotypie ließ die Linien zu einem undeutlichen, pastellartigen Gebilde verschwimmen, trotzdem waren die Einzelheiten recht deutlich auszumachen: ein Wald, in den eine Schneise geschlagen worden war. Die Schwellen einer Feld-Eisenbahn. Drei Loren. Davor eine Gruppe von Männern.
Sie trugen breite Strohhüte, die wie Kegel auf den Köpfen saßen und die stumpfen, ergebenen chinesischen Kuli-Gesichter beschatteten. Zwei hielten Pickel und Schaufel in der Hand. Alle blickten sie einen anderen Mann an, der etwas seitwärts von der Gruppe stand und mit verschränkten Armen in die Kamera schaute. »Das ist mein Großvater«, hatte Philip Wang Fu Bernier einmal erzählt. »Die Götter mögen seine Seele verwöhnen … Es war der elende Zopf.«
»Der Zopf?«
»Der wurde ihm zum Verhängnis. Er muß eminent stolz auf ihn gewesen sein. Konnte ihn sich auch leisten. Schließlich war er Vorarbeiter … Und er kam nicht aus Kanton wie diese ganze halb verhungerte Brut, die die Engländer damals nach Malaysia lockten, damit sie in den Zinnminen krepierten, mit denen sich diese unersättlichen Teufel mästeten. Nein, mein Großvater war ein Mann der Berge.« Philip schien mächtig stolz darauf zu sein. Chinesen aus Kanton, noch schlimmer aus Shanghai, hatte er stets verabscheut: »Für Haifische halten sie sich. Was sind sie? Sprotten!«
»Mein Großvater war der erste Vorarbeiter unserer Familie. Der zweite war mein Vater. Ich war der erste, der englisch sprach und den anderen zeigte, wo es langgeht.«
J.P. Bernier hatte beeindruckt genickt. »Und der Zopf?«
»Der Zopf – richtig. Als die Engländer verlangten, daß ihre Kulis sich die Zöpfe abschneiden, wenigstens soweit sie mit Maschinen umgingen, gab es Riesen-Ärger und Geschrei. Nun ja, Kanton-Kulis sind keine Meuterer … Mein Großvater war einer. Ein Herr war er. Ein Fürst … Also ließ er seinen Zopf, wo er war. Und Mr. Hammerworth – muß man sich vorstellen, den Namen! – jedenfalls, Mr. Hammerworth verzichtete darauf, seinen Befehl bei ihm durchzusetzen. Er wußte ganz genau, dieser Hammerworth, warum er das tat. Ohne den alten Wang wäre ihm der Laden glatt zusammengebrochen. Seine schöne Feld-Eisenbahn von Ipoh rauf zur Mine jedenfalls hätte er vergessen können. Schön, man muß objektiv bleiben: Sie haben die Linie dann doch weitergebaut. Auch als mein Großvater tot war.«
»An was starb er?«
»Das ist es ja. Davon red' ich doch … Er war nicht nur ein unbesiegbar mutiger und unbesiegbar tüchtiger Mann, der mit bloßem Messer sogar einen Tiger anging, und die gab's ja noch in Mengen und nicht nur in Ipoh – die gab's in ganz Malaysia, selbst auf der Insel Singapur. Tausende. Abertausende hat es damals gegeben … Mein Vater erzählte mir einmal, wie der Koch im Camp nachts ein verdächtiges Geräusch hörte. Er war gerade dabei, die Suppe für den nächsten Tag zu kochen. Er ging hinaus ins Freie. Und wer stand da, im Mondlicht? Ein Tiger … Dieser Koch war gar nicht so übel. Er hatte ein Löwenherz wie mein Großvater. Was machte er also? Er rannte zurück, nahm seine Suppe, den ganzen Kübel für vierzig Mann, und schmiß ihn dem Tiger, der da stand, an den Kopf.«
»Und der Zopf?«
»Der Zopf? Nun, mein Großvater hatte mir vor hundert Jahren eine Erkenntnis vorweggenommen, mein lieber Bernier, die ich mir in meinem späteren Leben erst mühsam erringen mußte: Leg deinen Lingam, deine Gesundheit und deine Kraft in die Hände junger Frauen. Dort sind sie am besten behütet. Pflege Yin wie Yang.«
»Aha.«
»Ja, mein Lieber. Nun war ihm aber eines der jungen Mädchen, die im Arbeiter-Camp arbeiteten, besonders aufgefallen. Sie bekam die Aufgabe, seinen Zopf – und nicht nur den Zopf – zu pflegen. Kämmen und fetten also und weiß der Teufel, was da noch dazugehörte … Sie hatte gerade den verdammten Zopf gelöst, war wohl am Kämmen und Fetten, die beiden saßen im Wald unter einem Busch – und da passierte es. Er selbst hatte den Baum zum Fällen noch ausgesucht. Aber bei dem Geturtel mit dem Mädchen leider vergessen. Die Arbeiter sahen ihn nicht unter seinem Busch. Und da – krach! Bumm … Das Mädchen konnte sich noch retten. Er aber … Der Baum zermalmte ihn … Die Rippen stießen aus seinem Leib hervor, hat mir meine Großmutter später erzählt, wie die Spanten aus einem Schiffswrack. Was hatte er auch mit dieser von den Göttern geschlagenen Hure unter einem Busch zu suchen? Na, was
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