Im Auftrag des Tigers
ausgesehen hat … Schwindlig könnte einem werden. Vor zehn Jahren war der höchste Punkt von ganz Kuala Lumpur der Flaggenmast vor dem Regierungsgebäude. Und heute, frage ich Sie … Oder morgen? Da werden zu allen anderen gottverdammten Hochhäusern noch die Türme stehen. Vierhundertfünfzig Meter hoch. Vierhundertfünfzig Meter! Die höchsten Gebäude der Welt.«
Maya nickte geduldig weiter.
»Was bin ich froh um Kualang! Bei allen guten Göttern, die ganze Westküste nichts als Fabriken und Krach. Da könnte ich ja gleich in Chicago wohnen. Kennen Sie Chicago?«
Er war ein Sikh. Er hatte schwarze, waagerechte Augenbrauen, die Augen eines Vogels, auch die Geiernase paßte dazu. An den dunklen Händen glänzten Ringe. Allein die Saphire daran mußten ein Vermögen wert sein. Maya überlegte. In Kualang gab es vier Sikh-Familien, die zählten. Wie hießen sie noch? Sie hatte es vergessen …
»Sie kennen also Chicago?«
Was interessierte ihn, ob sie Chicago kannte?
Sie war nun auf der Hut.
Sie trug noch immer Julias Sonnenbrille auf der Nase. Den ganzen langen Flug hatte sie sie nicht ein einziges Mal abgesetzt. Gott segne Julia.
»Ja.«
»Und Kualang?«
»Auch.«
Er hatte sie nicht erkannt.
»Es ist wunderbar. Ich bin jedesmal heilfroh, wenn ich wieder zuhause bin.«
Maya sah zum Fenster des Airbusses hinaus. ›Malaysia – Vision 2020‹ lautete in diesem Jahr der Slogan der Regierungspartei. Hier, aus einer Höhe von zehntausend Metern, konnte man erkennen, was damit gemeint war. Von ihrem Fensterplatz aus erschien ihr das ganze Land wie eine Propaganda-Illustration. Sie näherten sich dem Zentralgebirge. Als habe jemand mit einer gewaltigen Schere dort einen großen Schnitt getätigt, schien das Land in zwei Teile geteilt: Im Westen Zivilisation, Autobahnen, Straßenverbindungen, Siedlungen und Fabriken, die wie im Fieber gebaut worden waren: Malaysia – größter Halbleiter-Exporteur der Welt … Malaysia – Gewinner des nächsten Jahrtausends!
Und dann die Berge.
Dann der Wald …
Kamm nach Kamm, Welle nach Welle. Seit Millionen von Jahren in das tiefe Grün der Baumkronen getaucht. Tut gut, ihn zu sehen, dachte sie. Sehr, sehr gut.
»Wir bitten Sie, das Rauchen einzustellen und sich wieder anzuschnallen. Wir befinden uns im Landeanflug auf Kualang.«
Neben Maya klickte die Gurtschnalle des Sikhs. »Oh, dem Himmel sei Dank«, sagte er.
Lang ausgestreckt lag J.P. Bernier auf seinem Doppelbett in der Suite Nummer acht des Jorak Palace Hotels in Kualang. Er hielt den Telefonhörer in der Hand. »Hör mal, Tong, ich weiß, daß du ein guter Junge bist. Du wirst mich doch nicht vom Gegenteil überzeugen wollen? – Nein? Na, siehst du …«
»Aber ich kann doch nicht«, japste es aus dem fernen Johor Baru zurück. Das erschrockene Keuchen klang so kristallklar, als stünde Tong im selben Raum: »Ich arbeite zwar in der MAS-Buchung, aber nicht im Computer-Service, Tuan.«
»Laß mal den Tuan weg. Die Tuans sterben gerade aus, Tong … Was soll das denn heißen, daß du nicht kannst? Natürlich kannst du.«
»Aber …«
»Das Wort ›aber‹ solltest du bei mir auch besser aus dem Wörterbuch streichen, mein Tong.«
J.P. Berniers Stimme war um eine Nuance härter geworden, nur um eine sehr kleine Nuance. Es würde reichen: Der kleine Pinkler dort am anderen Ende stand schließlich auf seiner Lohnliste. Und nicht nur das, er hatte Angst. Und dazu hatte Tong auch Gründe.
»Du gibst mir die Daten sofort durch. Flugnummer und Ankunftszeit reichen.«
»Aber …«
»Tong!« J.P. Bernier sagte nur den Namen und legte auf.
Er sah auf seine Uhr: achtzehn Uhr zwanzig.
Na, dachte er, fünf Minuten geb' ich dir. Höchstens. Schade, daß niemand zum Wetten da ist, daß du's noch früher schaffst.
Er blickte wieder zum Fenster. Zuvor hatte er die Vorhänge aufgezogen, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Er hatte sich auch sonst ein wenig umgesehen, um sich eine Vorstellung davon zu machen, in welches Kaff er da geraten war. Kualang … Das Nandi-Haus lag dort oben auf dem Hügel. Das hatte er schon herausgefunden.
Na, man würde sehen …
Er seufzte und blickte auf die Kitsch-Fassade des Gebäudes gegenüber: ein Museum. Viktorianisch. Die Busen der beiden Mädchen, die den Balkon trugen, waren allerdings keineswegs prüde. Gewaltig runde Brummer waren das. Nur, die Zeit und der Monsun hatten sie angefressen. Leider …
Das Telefon klingelte. Nicht fünf, nein, dreieinhalb Minuten
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