Im Auftrag des Tigers
hatte Verbrechen begangen? Sie war Mitglied einer dieser Untergrund-Organisationen – ob Kommunist oder Ökologist, wo liegt schon der Unterschied? Maya, ein Mitglied seiner Familie – ein Staatsfeind! …
»Diese Schande … Sie gehört getötet«, sagte er heiser.
»Es ist deine Entscheidung, allein deine, alter Freund. Es ist deine Familie, und sie ist deine Enkelin.«
»Ich habe sie schon einmal verstoßen.«
»Als dein alter Partner und Weggefährte kann ich dir nur eines sagen: Ein Ast am Baum, der abgestorben ist, gehört weggeschlagen, so wie die Giftpflanze im Garten gejätet und ein Geschwür aus dem Körper geschnitten werden muß … Das schmerzt, mein lieber Freund … Es schmerzt sehr, ich weiß. Denn die Familie ist wie der eigene Körper …«
Wie der eigene Körper.
Sulei Nandi seufzte. Lautlos bewegten sich die Flügel der Ventilatoren über seinem weißen, schmalen Schädel. Draußen raschelten die Palmwedel in der heißen Nachmittags-Brise, er aber, er fröstelte.
Er legte beide Hände auf die Lehnen des Sessels, schob sich mühsam hoch, nahm das Glas mit den Fliegen, die er am Vormittag gefangen hatte und trug es hinüber zum Terrarium, wo die Eidechsen und seine Frösche warteten. Er nahm den Deckel ab, stellte das Glas in das Terrarium, schloß den Deckel wieder und setzte sich auf den kunstvoll geschnitzten Elefantenhocker, der daneben stand.
Eine der Fliegen krabbelte über den Glasrand und flog den kurzen Weg hinüber zu dem Stein, auf dem Schiwa, Sulei Nandis Lieblings-Frosch, saß.
Er beobachtete, wie Schiwas Kehlsack zu zittern begann. Der Frosch rührte sich nicht. Nicht einmal der Kopf bewegte sich.
Dann aber … wie immer kam der Angriff so schnell, daß Sulei Nandi ihn nicht verfolgen konnte. Schiwa schluckte. Die Fliege war verschwunden …
»Exzellenz!«
Sulei Nandi wandte den Kopf. Sidh stand an der Tür, ein reichlich nervöser Sidh. Statt die Arme ehrerbietig rechts und links des schmalen, kleinen Körpers zu halten, kratzte er an seinem Hinterkopf herum.
»Exzellenz, verzeihen Sie bitte. Aber sie ist da.«
»Wer ist da?«
»Sie.«
Sulei Nandi begriff – und vermochte es doch nicht zu glauben.
»Maya?«
»Ja, Exzellenz, Eure Enkelin.«
»Und wo ist sie, bei allen Göttern?«
»Im Haus …«
Zuvor, als Geeti sie in das Zimmer der Großmutter geführt und der alten Frau in ihrer atemlos aufgeregten Art auseinandergesetzt hatte, daß Maya nur einen kurzen Besuch abstatten wollte, war Rachana Nandi aufgestanden und hatte die Enkelin geküßt, wobei ihr Schleier verrutschte, so daß man das dünne, graue Haar sehen konnte, das sich um ihren schmalen, zarten Vogelschädel legte.
Maya hatte ihre Rührung kaum beherrschen können. »Von diesem Augenblick habe ich so oft geträumt«, sagte sie.
Es war die Wahrheit.
Doch Rachana hatte sich stumm wieder niedergesetzt, den Stock zwischen die Knie genommen, die Hände über dem Knauf gekreuzt. Da saß sie nun vor den unbeweglichen Reihen ihrer Götterfiguren, genauso wie Maya sie in ihren Träumen gesehen hatte, doch auf einmal schien sie fremd und unbewegt, und Maya fragte sich, ob sie überhaupt noch wußte, wer da gekommen war und was um sie herum vorging.
»Sie kommt aus Amerika, Großmutter.«
Im Dämmern des Zimmers wurde das Gesicht Rachana Nandis zu einer Maske aus altem, brüchigem Ton. Nur die künstlichen Zähne wirkten lebendig. Sie mußte wohl lächeln. Sie tat es schon die ganze Zeit.
Sie lächelte – und sprach kein Wort.
»Maya hat dort studiert.« Geeti hörte nicht auf. Ihre Stimme klang wie die eines bettelnden Kindes: »Sie arbeitet als Biologin, wie unser Vater. Sie will auch die Station besuchen. Wahrscheinlich bleibt sie dort oben, nicht wahr?«
Maya nickte.
Was sollte sie sonst tun?
Die Hitze in dem niedrigen Raum machte den Sandelholz-Geruch der Räucherkerzen noch unerträglicher. Sie hatte nur noch einen einzigen Wunsch: zu gehen, nein, zu fliehen. Sie suchte wieder nach Worten, nach Worten, die die alte Frau doch nicht begreifen würde.
Sie brauchte sie nicht auszusprechen.
Die Tür hatte sich geöffnet.
Es war eine sehr große, kunstvoll gearbeitete Tür, wie alle Türen in diesem Haus, und in dem Rechteck konnte sie den Schattenriß erkennen: Lang, noch dünner als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie sah, wie sich Sulei Nandis Arm hob und versank in die Verbeugung, die der Baba von allen Mitgliedern seines Haushaltes verlangte, und so, den Kopf in Demut gesenkt, hörte sie seine
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