Im Auftrag des Tigers
sich nicht. Wieder nahm sie das Gelände in Augenschein. Ein flaches Flußufer, die ideale Tränke für alle Tiere, die hier im Wald lebten …
Sie konnte nicht länger warten. Der Kleine mußte lernen zu schlagen. Vor drei Tagen hatte sein Bruder bereits einen Wildeber angenommen. Er aber, er spielte noch immer nur mit den Beutetieren, die sie ihm anschleppte, entschloß sich nicht, sie zu töten, bis sie selbst schließlich den Nackenbiß ansetzte. Und wenn dann Blut floß und die Beute erschlaffte, erlosch auch sein Interesse.
Sie fauchte ihn fort. Doch er kam wieder. Irgendwann trollte er sich zu seinem Bruder.
Der hatte sich erhoben. Die Ohren versteiften sich.
Auch sie blickte nun zum anderen Flußufer. Nichts … Doch: Unten zwischen den Büschen, auf der rechten Seite, an der Begrenzung des Geröllfeldes, bewegte sich etwas. Nun wieder … dort, bei den verkrüppelten Ratfan -Palmen.
In den Jahren der Jagd hatte die Weiße gelernt, all ihre Sinne so einzusetzen, daß sie ein Maximum an Schärfe vermittelten. Weit mehr als auf Gehör- und Geruchssinn konnte sie sich auf ihre Augen verlassen, in jeder Situation, selbst in der tiefsten Nacht.
Hinter den lanzettförmigen Ratfan -Blättern erkannte sie ein Stück Fell mit Punkten.
Ein Hirschkalb. Klein war es, sehr klein. Dahinter kam ein zweites. Wachsam äugend schob es den schmalen Kopf mit den großen Augen über die Deckung, trat nun hervor. Die Mutter mußte sich in der Nähe befinden. Richtig, dort neben dem Stamm stand sie.
Die Tigerin beobachtete ihren Großen. Er hatte sich bereits entschlossen, erhob sich vorsichtig, sehr vorsichtig, wollte hinter den Fels, um in der Deckung der Buschreihe an den Fluß zu gelangen.
Sie sah ihn ein zweites Mal an, und er legte sich gehorsam nieder.
Auch der Rücken des Kleinen hatte sich gespannt. Als sie sich nicht rührte, setzte er sich neben den Felsen. Von dort, die gestreiften Ohren steil aufgerichtet, blickte er zuerst sie an, dann seinen Bruder …
Sie hob die rechte Pranke und ließ sie lautlos herunterfallen, als schlage sie ein Tier.
Sein ganzer Körper war nun nichts als eine einzige lauernde Anspannung.
Endlich …
Sie drehte wieder den Kopf zum Fluß. Die Kälber waren wirklich sehr klein, die Stirnhügel, die den Geweihansatz bildeten, hatten sich noch nicht geformt. In drolligen Sprüngen kamen sie herab zum Wasser getanzt. Einer knuffte den anderen. Ziemlich eilig hatten sie es.
Und die Mutter? …
Die Tigerin kontrollierte den Fluß, das andere Ufer, sah zu den Durian -Bäumen hinüber und zu den paar Mangroven, die dort wuchsen.
Sie konnte sie nicht entdecken.
Sie buckelte sich leicht ein. Der Kleine hatte verstanden. Als sich auch sein Bruder erheben wollte, gab sie ein fast unhörbares Fauchen von sich.
Er duckte sich wieder.
Die Weiße senkte die Lider, um die Augen vor dem einfallenden Licht zu schützen. Die Sonne hing hinter Schleiern. Ein Glück an diesem Morgen … Die beiden Kälber befanden sich an einer Stelle, die von der Plattform aus nicht einsehbar war. Nun kamen sie hervor. Sie waren wirklich winzig. Nicht viel größer als kleine Affen. Trotzdem, wenn ihr Sohn nicht aufpaßte, den Schlag nicht klug genug ansetzte, um ihnen das Genick zu brechen, konnte er von den Hufen erwischt werden. Und die waren selbst bei Hirsch-Babies nicht nur stahlhart, sondern messerscharf.
Falls er überhaupt an sie herankam …
Doch …
Sie konnte es nicht glauben: Sieh an, der Kleine! Da war er … Und er ging das größere Kalb an, das am Ufer stand und gerade den schmalen Hals nach vorne geschoben hatte, um zu trinken. Es wirbelte herum, wollte weg.
Er machte es richtig. Er war ihr Sohn.
Sie erhob sich, stand in ihrer ganzen gewaltigen Größe, um das wilde Durcheinander von auffliegender, blutgefärbter Gischt, von Pranken und Hufen, Beute- und Jägerfleisch zu erfassen, erkannte, wie der Körper des Kalbs an Land geschleudert wurde, wie es noch einmal hochzukommen versuchte …
Doch wie konnte es das? Er hatte es richtig gemacht! Er hatte dem Kalb, ehe es zum Schlagen ansetzte, die Sprungsehnen durchgebissen. Nun aber schlug er die Zähne in den Nacken zum Todesbiß …
Die Weiße erhob sich. Ein tiefes, zufriedenes, fast melodiöses › Uu-aahh ‹ drang aus ihrer Brust, während sie ihrem Sohn entgegenblickte, der seine Beute herauf auf das Felsplateau trug …
An diesem Tag, um die Mittagszeit, schlug die Weiße noch ein großes Schwein und zog sich bis in die Nacht mit
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