Im Auge des Feuers
Theorie. Der in dem Gebäude gefundene Tote ist jetzt identifiziert. Es war möglich, ihm Fingerabdrücke abzunehmen. Er ist ein fünfundfünfzig Jahre alter, stadtbekannter Alkoholiker. Sein Name ist Per Andersen und er war tatsächlich in unseren Archiven. Nach dem Brand 1969 ist er kurz vernommen worden.« Eira hielt eine vergilbte Mappe hoch. »Wir nehmen an, dass er in dem Gebäude geschlafen hat, als der Brand ausgebrochen ist. Der Raum war, wie wir vermutet haben, voller unterschiedlicher Abfälle, die noch nicht abtransportiert worden waren. Es muss zu einer erheblichen Rauchentwicklung gekommen sein, die ihn schnell vergiftet hat.«
Wikan blätterte in seinen Papieren und sah auf einmal unangenehm berührt aus. »Ich hab ihn in meiner Jugend gekannt. Ein armer Tropf, mit dem es das Schicksal nicht sonderlich gut gemeint hat. Um ehrlich zu sein, haben seine Probleme mit der Flasche damals schon angefangen.«
Eira betrachtete Sverre Wikan nachdenklich. »Nach dem Nachlöschen gestern habe ich mit einer etwas seltsamen älteren Dame namens Magni Andersen gesprochen. Sie kannte Sie.«
»Magni. Per Andersens Mutter. Sie müsste inzwischen wohl benachrichtigt worden sein.« Um Sverre Wikans verbranntes Auge zuckte es. »Eine schrullige Frau und außerdem wohl eine der redseligsten, die ich kenne. Der arme Per. Er hat bestimmt noch zu Hause bei ihr gewohnt.«
Mit einer Hand wühlte Sverre sich durch die kurzen Haarstoppeln. »Ich frage mich, ob ich nicht auch zur Flasche gegriffen hätte, wenn ich ihr den ganzen Tag hätte zuhören müssen.« Unvermittelt schwieg Sverre und räusperte sich. Derartige Analysen fielen nicht in seinen Fachbereich.
Eira trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Hatte Per Andersen keine andere Familie als seine Mutter Magni?«
»Er ist Einzelkind und hat sein ganzes Leben mit seiner Mutter zusammengewohnt.« Wikans kleine, tief liegende Augen schienen fast zu funkeln. »Es ist mir ein Rätsel, wie sich jemand mit ihr einlassen konnte, selbst vor fünfundfünfzig Jahren, als sich noch alles im Stockdunkeln abspielte. Die Gene, die ihn zum Alkoholiker werden ließen, muss Per von seinem unbekannten Erzeuger mitbekommen haben.«
Es wurde gekichert und gegrinst und die Stimmung stieg merklich.
Kriminalkommissarin Berger war wie gewöhnlich joggend ins Büro gekommen, ihr frisch gekämmter Pferdeschwanz war straff und noch feucht vom Duschen. Eira warf ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Sie war die einzige Frau in der Versammlung und saß hochrot am Ende des Tisches. Mit ihren eins achtundsiebzig war sie nicht gerade klein, dabei schlank und grazil. In gewissen Bereichen fehlte ihr allerdings jeglicher Sinn für Humor.
»Ich muss schon sagen …«, fauchte sie.
Eira machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Per Andersen, der Alkoholiker ist, ließ sich also in dem Raum nieder, in dem noch eine Menge Verpackungs- und Baumaterial herumlag. Dass er überhaupt hineingekommen ist, ist sowieso auf ein Versehen zurückzuführen. Irgendwer hatte wohl vergessen, die Tür hinter sich abzuschließen. Wir überprüfen, ob jemand ihn dort hineingehen sah oder ob in der näheren Umgebung Personen beobachtet worden sind.«
Eira wandte seinen Blick dem Polizeibeamten von der Wache zu, der mit einem Zettel in der Hand hereinkam. »Oft helfen uns die Aussagen von Taxifahrern weiter. Im Moment wird unter Hochdruck die Taxinachtschicht befragt. Wir haben ein Hinweistelefon eingerichtet und eine Tür-zu-Tür-Aktion organisiert.« Er schaute konzentriert auf den Zettel. »Aha, offenbar gibt es die Zeugenaussage eines Fahrers, der um 1:50 Uhr nachts Passagiere am Grand Hotel abgesetzt hat. Das ist zwar eine Straße weiter, aber als er zum Hotel hin abbog, sah er zwanzig oder dreißig Meter von der Brandstelle entfernt zwei Personen miteinander reden. Zwei Männer.«
»Keine weiteren Angaben?«
Eira schüttelte den Kopf. »Es war dunkel, kalt, spät. In solch einer Situation achtet man wohl lediglich auf die Uhr und den Verkehr, während man sich nach Hause ins Bett sehnt. Wer kümmert sich da um zwei Typen, die diskutierend draußen in der Kälte stehen?« Nachdenklich sah Eira in die Runde. »Inzwischen wissen wir Folgendes.« Eiras Blick schweifte zu einem neu hinzugekommenen Brandermittler, der seine Jacke ausgezogen und sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen lassen hatte. »Das Opfer war höchstwahrscheinlich noch am Leben, als das Feuer ausbrach.«
Polizeidirektor Hagen erhob
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