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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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Vollidiot. Ein Mensch, der immer alles geschenkt bekommen hat und auch noch glaubt, dass er das verdient. Ein Mensch, der vierhundert Riesen findet und meint, dass er sie einfach so behalten darf.«
    Tom versuchte, sich mit einer Hand aufzustützen – der Ruck goss kochendes Öl über seinem Rückgrat aus. Langsam hievte er sich auf die Knie, darauf gefasst, jeden Moment wieder niedergeschlagen zu werden. Aber er durfte einfach nicht liegen bleiben.
    »Glaubst du wirklich, das ist der Lauf der Welt?« Die Stimme war näher gekommen, ein Mundgeruch mit starker Kaffeenote wehte Tom ins Gesicht. Er blinzelte, bis seine Augen sich scharf stellten, und sah, wie sich der Mann zu ihm herabbeugte, noch immer die Pistole in der Hand – ein großes, schweres, verchromtes Ding. »Glaubst du wirklich, dass dir einfach so vierhundert Riesen in den Schoß fallen? Und dass es wirklich kein Problem ist, wenn du sie behältst? Im Ernst?«
    Tom hustete und drückte den Rücken durch. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er sich auf den Typen stürzte, wie er ihn gegen die Tür schmetterte und ihm die Pistole aus der Hand riss. Doch so sehr er sich auch bemühte, er glaubte nicht daran.
    »Hat dir deine Mutter denn keine Gute-Nacht-Geschichten erzählt? Wenn du eine Truhe voller Gold findest, kannst du drauf wetten, dass sie von irgendeinem Monster bewacht wird. Das ist der Lauf der Welt. Du willst den Schatz für dich, okay, dann musst du erst an jemandem wie mir vorbeikommen.« Mit einer raschen Bewegung hob der Mann die Pistole, so dass Tom direkt in den dunklen Lauf starrte. Das Ding wirkte unglaublich groß. In seinem ganzen Körper pulsierte der Schmerz, sein Kopf brannte. »Was meinst du? Hast du das drauf?«
    Tom zwang seinen Blick nach oben, weg von der Pistole. Der Typ wirkte irgendwie polnisch, mit seinem breiten Gesicht und dem dunklen Haar. Ein Gedanke führte zum nächsten, und Tom hechelte hinterher, bis er bei einem Namen angelangt war: Jack Witkowski – der Mann im Anzug hatte gefragt, ob er einen Jack Witkowski kannte.
    »Na?«
    Tom überwand sich, Jack in die Augen zu blicken. Und schüttelte langsam den Kopf.
    Jack lächelte. »Gut.« Er steckte die Pistole ins Halfter und hielt ihm die rechte Hand hin. Tom ergriff sie, rappelte sich auf. Eine Schwindelwelle schwappte über ihn hinweg und ließ seinen ganzen Körper erzittern, aber irgendwie gelang es ihm, auf den Füßen zu bleiben.
    »Also«, sagte Jack, »wo ist mein Geld?«
    Noch vor einer Stunde hätte er ganz anders geantwortet. Noch vor einer Stunde hätte er Zeit geschunden oder es mit einer Lüge probiert, vielleicht auch den Ahnungslosen gespielt. Doch jetzt waren ihm zwei ganz simple, aber entscheidende Tatsachen klar geworden: Erstens steckte er tiefer in der Scheiße als gedacht. Zweitens würde Anna jeden Moment nach Hause kommen. »Im Keller.«
    »Zeig’s mir.«
    Ein Bild blitzte vor Toms innerem Auge auf: graue Betonwände unter einer grauen Betondecke, ein einsames Fenster in der hinteren Mauer. Eine einzelne, nackte Glühbirne dämpft die scharf geschnittenen Schatten. Auf dem Boden ein Körper, mit dem Gesicht nach unten. Die Kamera zoomt langsam heraus, aus der Blutlache, die aus den Überresten des Schädels rinnt. Die Einstellung hatte er sich aus einem Scorsese-Film geborgt, aber diesmal würde es Toms Körper sein, Toms Blut. Er riss sich zusammen und dachte an Anna. »Hier entlang.«
    »Du zuerst. Und schön langsam.«
    Es kostete ihn unglaubliche Überwindung, aber schließlich schaffte es Tom, dem Mann und der Pistole den Rücken zuzukehren. Seine Niere schmetterte eine grelle Schmerzensarie. Er tat einen Schritt, dann noch einen, während seine Augen durch den Raum irrten. Das Fasermuster des Holzbodens, sein eigener Schweißgeruch, die Beulen und Schnitte in den Zierleisten – jede einzelne Kleinigkeit war auf einmal lebenswichtig, und gleichzeitig gab es so viele davon, gleichzeitig war die Welt so enorm präsent, dass es ihm den Blick vernebelte, bis er gar nichts mehr sah.
    Auf der Hintertreppe roch es leicht nach Rauch. Das Holz knarrte und quietschte bei jeder Stufe. In der Ecke hingen Spinnweben, darunter lagen Abfallreste, wo ihnen vor einem Jahr ein Müllsack geplatzt war. Tom betrachtete all das aus großer Ferne. Er beobachtete sich selbst, wie er nach dem Lichtschalter tastete, bis verstaubtes, ausgeblichenes Gelb in der Dunkelheit aufleuchtete. Er verfolgte mit, wie er nach hinten ging, vorbei an Waschmaschine und

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